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Man lebt nicht davon

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Alphons Lliotsky verkörperte das Ideal des Gelehrten. Es wäre Lavater leichtgefallen, den Charakter zu deuten, denn, wenn man Lhotskys Arbeitszimmer in der Universität betrat, konnte man glauben, Erasmus Im Gehäuse, wie ihn Holbein verewigte, vor sich zu sehen. Und Erasmus glich sein Geist. Wer die Studien in dem vorliegenden Band, dem nodi drei Bände folgen werden, zur Hand nimmt, wird das fast übermensch-lidie Gedächtnis, das erstaunlidi weite und tiefe Wissen und die einmalige Gabe, für die schwierigsten dem Historiker und Philologen gestellten Fragen die Lösung zu finden, als Wunder einer außerordentlichen Geisteskraft empfinden und Verlangen tragen. Näheres über Persönlichkeit und Wirken des Autors zu erfahren. Diesen Wunsch erfüllt Hans Wagner in einer meisterhaften biographischen als Einleitung gebradi-ten Skizze, in der man einen Hauch vom Geiste des Verewigten verspürt. Hans Wanger ist zuzustimmen, wenn er über die vorliegende Sammlung urteilt: „Es gibt im ganzen großen Raum des österreichischen Schrifttums kaum ein Werk, das weniger der Vergangenheit anheimzufallen verdient." Was Lhotsky von Otto von Freising sagt: „Unerschöpf-lidi ist das Merkmal der Größe eines literarischen Lebenswerkes", gilt auch für ihn.

Indem er das Mittelalter erklärt, hilft er zum Verständnis aller Zeiten. Er spürt dem Geist der Zeiten nadi und bietet uns in der Geistesgeschichte des Mittelalters die Erkenntnis von dessen Wesen.

Lhotsky lebte nadi seinem Leit-sprudi: „Wissenschaft ist nidit Ver-braudi von Staatsgeldern, Wissenschalt ist Entsagung, ist Einsamkeit und Dienen." Seine Arbeit war mit dem Zwöllstundentag in seiner Gelehrtenstube nicht beendet, er setzte sie In der Häuslichkeit fort. Die Rätsel, die er sich aufgab, um Lücken der Historie und "Philologie zu lullen, ließen ihn nicht ruhen, ehe sie gelöst waren. Nadi der Fabel hat

Homer sldi ins Meer gestürzt, weil er das „Läuserätsel" nidit lösen konnte. Lhotsky hat das keineswegs leichtere Rätsel, wie das Läuserätsel aus Griechenland nadi Kärnten kam, in einer Weise gelöst, die das Entzücken aller Historiker und Philologen erwecken muß. Die dem europäischen Mittelalter gewidmeten Aufsätze wenden sidi drei Gestalten zu: Dante, Otto von Freising und Johann von Viktring und schließen mit der grandiosen Übersicht „Die Zeitwende um das Jahr 1400". Die Reihe „Das Land Österreich" enthält elf Studien, darunter die bedeutsamen Abhandlungen „Ostarrichi" und „Was heißt Haus Österreich" und vier über das Zeitalter der Gotik in unserer Heimat. Eigenart und Bedeutung Lhotskys liegen vor allem darin, daß er durch neue Fragestellung den Weg zu wesentlichen Erkenntnissen findet. Über die Geisteswissenschaften, die den Inhalt seines Lebens bildeten, schreibt er (Seite 266): „Man sieht sie häufig von oben herab mit lächelnder Nachsicht an wie den Flitterkram an Urgroßmutters Ballkleid und zuckt die Achseln wie jener französische

Mathematiker des 18. Jahrhunderts, der nach Anhörung eines Trauerspieles des Racine fragte: que c’est que cela prouve? Was hat man schon davon? Man lebt doch nidit davon, und man stirbt nidit daran. Und wenn die riesenhaften Errungenschaften der Naturforsdiung durch die Technik in einer jedermann überzeugenden Eindringlldikeit täg-lidi neu und aufregend vor Augen geführt werden, so haben Philologie und Historie durdi ihre Selbstbegrenzung auf einen verhältnismäßig kleinen Kreis Wissender den lebendigen Zusammenhang mit der allgemeinen Bildung und Kenntnisnahme verloren, so daß im Publikum der Eindruck entstehen konnte, hier sei im Grunde ja längst nichts mehr los. Und doch hat gerade diese als überflüssig empfundene und wissenschaftlich totgesagte Historie seit dem vergangenen Jahrhundert methodische Fortschritte und praktische Erfolge erzielt, die denen der realen Disziplinen zumindest prinzipiell schwerlich nachstehen."

ALPHONS LHOTSKY: AUFSÄTZE UND VORTRÄGE. Ausgewählt und herausgegeben von Hans Wagner und Heinrich Koller. Band I. Europäisches Mittelalter. Das Land Osterreich. Verlag für Geschichte und Politik, Wien. 388 Seiten. S 240.—.

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