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Mehr als Fiktion

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Die Katastrophe, die im Herbst 1938 in Hunderttausenden amerikanischen Haushalten den Alltag lahmlegte, kam über den Äther. Sie hatte nichts mit dem realen Unheil zu tun, das im Hitler- Deutschland und in Europa unerbittlich seinen Lauf genommen hatte, sondern mit der „Invasion vom Mars“, die Orson Welles nach dem science-fiction-Roman „Krieg der Welten“ von H. G. Wells im amerikanischen Radio inszenierte.

Die Trug-Hörbilder einer „li- ve“-Berichterstattung der Landung von Marsbewohnern, die eine trickreiche Regie ifber Ätherwellen verbreitete, vermochten für tausende Hörer mit einem Schlag die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit aufzuheben. Die Chronik berichtet von Panik, Chaos und Selbstmorden.

Der science-fiction-Fall mit realen Folgen ging nicht nur in die Radio-Geschichte ein, sondern galt lange Jahre als prominenter Kronzeuge für die vermutete Macht der Medien, Menschen kollektiv in ihrem Denken, Fühlen und Handeln zu steuern.

Wenig später begann der wirkliche Krieg der Welten, vorbereitet und begleitet durch Trug- (Hör-)Bilder anderer Art, nämlich der medialen Inszenierung des Goebbels-Reichspropagan-daministeriums.

Und es bedurfte—mehr als dreißig Jahre nach Kriegsende — der fiktiven TV-Geschichte zweier Familien, die Verfolger und Verfolgte hautnah symbolisierten, um in die eingespielten Mechanismen kollektiver Verdrängung der Vergangenheit den Sand emotioneller Betroffenheit zu streuen: „Holokaust.“

Der TV-Dreiteiler, zu Recht als „Medienereignis“ apostrophiert, löste die Geschichtsbetrachtung aus der Sterilität schulmäßiger Pflichtübungen und damit aus der Kontraindikation, die mit jedem bloß oktroyierten Wissen einhergeht. Er durchbrach die Mauer des Schweigens zwischen der Kriegs- und Wiederaufbaugeneration.

Spätestens nach „Holokaust“ ist eines klar: Die Medien — insbesondere das Fernsehen — können sich der oft geübten Verurteilung als entfremdende Illusionsfabrik entziehen. Es ist ihnen die Fähig-keit eigen, neue Dimensionen der Wahrnehmung zu erschließen.

Fernsehen also nicht bloß als Flucht aus der Wirklichkeit durch fiction, sondern gerade im Gegenteil: Hinführung zur Wirklichkeit mit Hilfe von fiction — und zwar zu einer Wirklichkeit, die bisherige Wahrnehmungs- und Erlebnis möglichkeiten zum Alternativen zu bereichern vermag.

Die aktuell diskutierte Frage nach Bedeutung und Wirkung des jüngsten TV-Schockers „The day after“ ist vor diesem grundsätzlichen Hintergrund zu sehen.

Wenige Fernsehminuten genügen, für ein 100-Millionen-Publi- kum Denkmöglichkeiten wahr werden zu lassen und ihm das Unvorstellbare der atomaren Apokalypse vorstellbar zu machen, es aber nicht in die Unwirklichkeit zu entführen, sondern mit der Wirklichkeit des Schreckens zu konfrontieren. Zu konfrontieren auch mit der Wirklichkeit der eigenen Verdrängung der seit Jahrzehnten real existierenden Bedrohung.

Dazu kommt: Dieser TV-Film wird als Schulbeispiel für die Diskrepanz intendierter (realpolitischer) Wirkungen und tatsächlicher Folgen bei einzelnen Zuseher wie der amerikanischen Gesellschaft insgesamt in die Mediengeschichte und die Geschichte der Wirkungsforschung eingehen.

Es mag wohl kein Zufall gewesen sein, den Film präzis zu jenem Zeitpunkt zu senden, in dem sich die Zeitenwende der Nachrüstung in Europa vollzog.

Aber das realpolitische Kalkül, mit Hilfe der mit apokalyptischen Visionen wachgerufenen Angst den freien Westen in seinen Denk- und Handlungsmöglichkeiten zu lähmen, geht nicht auf.

Der Verstärkereffekt hat ein anderes Vorzeichen: Nicht das angestrebte Verharren in De- mutsgeste wird die Folge sein, sondern ein Zustand neuer politischer und moralischer Wachsamkeit.

So gesehen sind die Medien an der Dauerproduktion von Wirklichkeiten unterschiedlicher Natur beteiligt. Daraus erwächst ihnen ihre subjektive und objektive Bedeutung, die wohl auch das Maß ihrer Verantwortung festlegt ...

Der Autor ist Professor am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien.

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