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Menschen in Not

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Im Stift Altenburg im Waldviertel, in dem Kloster, in dem sich mönchische Strenge und kaiserliche Prachtentfaltung aufs glücklichste begegnen, fand vom 16. bis 19. Juni ein Symposion statt, das das Leid, dessen Sinn und Un-Sinn, zum Inhalt hatte.

„Uber das Leid nachzudenken und darüber auch besinnlich miteinander zu reden, besitzt zu jeder Zeit seine Aktualität“, meinte Rudolf Kirchschläger in seinem Eröffnungsreferat, und die Genfer Phüosophin Jeanne Hersch präzisierte Leid als „jeweüs Einziges und nicht wie ein Anderes“. Deshalb besitze Leid auch „in sich eine gewisse Reinheit“. „Im Reden über das Leid“, sagte sie, „geschieht oft eine Art von Verfälschung bis hin zum Kitschigen, während das Erleben von Leid etwas sehr Wildes ist, das den ganzen Menschen und seine Umgebung erschüttert.“ Und sie fügte hinzu: „Im Grunde würden wir Menschen viel weniger leiden, wenn wir nicht lieben würden, aber was wären wir ohne Liebe, also auch: was wären wir ohne Leid?!“

Das Symposion vereinte Philosophen (Jeanne Hersch, Michael Benedikt, Xavier Tilliette), Theologen und Religionswissenschaftler (Kardinal Franz König, Bettina Bäumer, Ernst Steinkellner), Psychiater und Mediziner (Erwin Ringel, Leo Eitinger) und Künstler (Friederike Mayröcker, Bodo Hell, Meinhard Rüdenauer, Hubert Aratym, dessen Arbeiten in der Krypta zu sehen sind) im gemeinsamen Bemühen, dem Thema Leid aus heutiger Sicht und Erkenntnis nahe zu kommen.

Dem Anspruch, eine zeitgemäße Formulierung für das Leid zu finden, wurde die Veranstaltung zwar nicht gerecht, aber der andere Vorsatz, Leid nicht nur von der pragmatisch-karitativen oder der nur-psychologischen Seite her zu bedenken, gelang auf eindrucksvolle Weise. *

Leid ist ein urmenschliches Phänomen, über seinen Sinn und seine Sinnlosigkeit wird seit Jahrtausenden nachgedacht. „Das Nachdenken enthüllt unsere tiefe Not“, sagte Xavier Tilliette, Jesuit und emeritierter Philosophieprofessor der Gregoriana in Rom, und er meinte damit, daß das Denken das Leid zwar nicht mindere, sondern erst deutlich mache, daß aber etwa der Fakir seinen Schmerz durch Hyperkonzentra-tion verhindere, so wie Pascal seine Zahnschmerzen durch das Lösen von mathematischen Problemen vertrieb.

Das Symposion, eines unter so vielen in diesem Jahr 1988, war vielleicht deshalb einzigartig, weil es sich bewußt nur an eine kleine Zahl von Teilnehmern wandte, mit denen das Gespräch gesucht und auch gefunden wurde, und weil es Vortragende vereinte, die nicht dozierten, sondern als Betroffene aus der je eigenen Disziplin sich an die je andere richteten. So konnte es geschehen, daß Jeanne Hersch und Leo Eitinger in ihren Schlußworten sagten, sie hätten Neues erfahren und gelernt. Jeanne Hersch ist achtundsiebzig, Leo Eitinger sechsundsiebzig Jahre alt.

„Das Bittere ist geschaffen worden“, zitierte Ernst L. Ehrlich, Direktor der europäischen B'nai B'rith, „damit es süß gemacht werde.“ Leid, so meint diese jüdische Weisheit, verlangt nach der ihm entgegengesetzten Kraft der Freude; dies ist ein aktiver, bewußter Prozeß, den der Mensch vollziehen muß, dann hat Leid einen Sinn. Ähnlich ist die Auffassung des Buddhismus und des Hinduismus. Ernst Steinkellner, Wien, und Bettina Bäumer, Benares, beleuchteten, daß in dieser Weltsicht die Aufhebung von Leid und Freude höchste Vollendung bedeute und im Gleichmut der Erleuchtung ihr Ziel habe.

Zutiefst menschlich war der Vortrag von Leo Eitinger, dem Psychiater aus Oslo, der auch im KZ imstande war, sein selbst erlittenes Leid in Mit-Leid umzuwandeln: in Hüfe für andere. „Wenn man seine eigenen moralischen Verpflichtungen ernst nimmt und versucht, das Leid, das man erlitten hat, in etwas Positives, wie zum Beispiel in Hüfe für andere, Mitgefühl und Mitleid, umzuwandeln, dann hat man die scheinbare Unbegreiflichkeit und Sinnlosigkeit der Konfrontation mit dem radikalsten Antihuma-nismus überwunden und dem Leid schlechthin einen tieferen Sinn gegeben.“

Eitinger sprach auch von der heuchlerischen Attitüde Minoritäten gegenüber, von denen immer wieder verlangt werde, daß sie um so vieles „besser zu sein hätten, weil sie soviel durchgemacht haben“, oder über den Unsinn, Leid gegen Leid aufzurechnen.

Eitinger — und andere Vortragende auch—stellten die Frage, ob es denn überhaupt menschlich verantwortbar sei, das Leidzufügen endlos fortzusetzen, und meinte, daß eine Veränderung und Verbesserung im „zwischenmenschlichen Benehmen nicht möglich sein wird, wenn wir nicht, statt Leid zuzufügen, Leid zu lindern und zu verhindern suchen“.

Auch Kardinal Franz König sprach in seinem Schlußreferat von „vermeidbarem und unvermeidbarem Leid“ in der Medizin etwa, aber auch von der sozialen Ungerechtigkeit mit ihrem oft unsagbaren Leid, oder dem Leid durch Diktaturen — Leiden, die nicht hingenommen werden müßten. „Die Beseitigung solcher Leiden“, führte er allerdings aus, „kann aber auch immer wieder neues Leid schaffen, daher ist die Frage nach der Angemessenheit der Mittel (Medikamente oder Kriege etwa), mit denen man Leid beseitigt, immer wieder neu zu stellen.“

Das Verschließen vor dem Leid anderer, das Abschieben von Leidenden in Krankenhäuser und Altersheime, aber auch das Verdrängen des eigenen Leides ist ein trauriges Zeichen unserer Zeit und beweist, wie wenig es gelingt, Leid auch als Kraftquelle zu verstehen und anzunehmen. Sowohl Xavier Tüliette wie Bettina Bäumer, der eine aus seinem Mönchs-tum, die andere aus dem indologischen Wissen wie aus dem zwanzigjährigen Leben in Indien, erinnerten an die Kraft der Askese, als einer sowohl religiösen wie menschlichen Möglichkeit, den Sinn von Leid zu beweisen, weil es umgewandelt wird vom „Bitteren ins Süße“.

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