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Morden für die Utopie

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In Schottland und in Siebenbürgen fanden die Forscher im letzten Jahrhundert die meisten Balladen. Sie schildern Tragödien, verknappen die Handlung, verdichten die Dialoge, wirken aufreizend, bestürzend, unerbittlich. Erinnerungen an historische Ereignisse, an Verbrechen, an die böse Folgerichtigkeit des Schicksals gewinnen in diesen von bäuerlichen Märchenerzählern und Sängern weitergegebenen Texten eine archaische Form.

Vor mehr als drei Jahrzehnten wollte ein damals verhältnismäßig junger Autor in Ungarn eine dieser Balladen in ein Bühnenstück verwandeln. Er, Imre Sarkadi, ein sanfter Träumer harter Wirklichkeit, hat einiges zu Pa-

pier gebracht, hat sich dann mit anderen Arbeiten beschäftigt, hat träumerisch und vielleicht berauscht den entscheidenden Schritt getan, den Schritt über die Fensterbank in den vielleicht gar nicht beabsichtigten Freitod. Nun wurde sein Fragment von jungen Leuten aufgefunden und zu Ende geführt, allerdings nicht als Schauspiel, sondern als etwas Gesungenes und Getanztes; und die spärlichen Dialoge dienen nur zur Vermittlung einer ethischen Botschaft. „Eine Rock-Ballade" wird die Darbietung genannt, die im zweiten, kleineren Haus eines großen Budapester Theaters zu sehen ist. Mühsam mußte sich das Publikum der Premiere durch die Menschenmassen einen Weg bahnen.

Die Volksballade über den Baumeister Klemens (in Ungarn wohlbekannt) handelt von einem Menschenopfer. Eine Burg soll aufgebaut werden. Die Mauern halten nicht, stürzen ein, immer wieder. Die Baumeister beschließen, jene Frau zu töten, die ihren Mann als erste auf der Burg besucht Ihre Asche soll dem Mörtel zauberische Kraft geben, die Steinblöcke binden.

Die Rock-Ballade verwandelt die barbarische Vorlage in ein leidenschaftliches, aktuelles und zugleich philosophisches Gleichnis.

Unter den Baumeistern ist Klemens der Held. Er allein verzagt nicht, er allein will das Werk vollenden, das Unmögliche verwirklichen, die Utopie erreichen. Sein Gegenspieler und Helfer

heißt Balthasar. Seine Argumente: Wenn die Leute an die Vollendung des Werkes nicht mehr glauben,' muß man ihnen einen Aberglauben geben. Das Menschenopfer ist sinnlos, aber es könnte Wunder wirken, indem es die Kräfte mobilisiert. Murrend erduldet Klemens die Täuschung. Und muß dann seine eigene Frau, seine schöne, liebende, mit ihm tief verbundene Gefährtin, dem mörderischen Opferkult überlassen.

Doch die Autoren der Rock-Ballade gehen weiter. Die Burg steht. Die Bauleute ahnen, daß der Mord bekannt werden könnte. Sie haben Angst vor dem Gericht. Wer aber hat sie angespornt, immer wieder? Wer hat schließlich seine Frau dem Mord überlassen? Klemens. Sie wollen Klemens töten, um sich zu retten.

Und wieder ist es Balthasar, der kühle Denker und Zyniker, der ein neues Argument zur Hand hat. Kann es denn die Obrigkeit zulassen, daß der Mord bekannt wird? Könnte man dann nicht be-

haupten, die stolze Burg wäre blutbesudelt, entwürdigt, durch die Opferung von Menschenleben erkauft? Nein, das Werk muß auch in der Methodik seiner Errichtung ohne Makel bleiben. Und in der Tat trifft die Nachricht ein: Das Gericht ist von den bösen Gerüchten benachrichtigt worden und wird also alle bestrafen, die solche Gerüchte verbreiten; die Baumeister aber sollen sich zu einem Fest vorbereiten.

Da stehen sie nun, die Baumeister, uns gegenüber, und singen und schreien uns die Moral der Geschichte ins Gesicht: „Die Burg sei verflucht. Verflucht Verflucht"

Zwanzig Minuten tosender Applaus. Ja, wir haben die Botschaft, die uns der tote Imre Sarkadi, der Autor der Bearbeitung, Csaba Ivänka, der Komponist Levente Szörenyi, der Dichter der Liedertexte, Jänos Brödy, der Regisseur Läszlö Marton, die jungen Darsteller vermitteln wollten, richtig verstanden, wir, gebrannte Kinder, Mitkämpfer,

Zeugen und Uberlebende ähnlicher Bauvorhaben. Und nach der Premiere dürfen auch wir unser bei solchen Gelegenheiten übliches Fest feiern, genau wie die Baumeister auf der Bühne.

Und dürfen uns, mit dem Weinglas in der Hand, unsere Gedanken machen. Uber die vielen Bedeutungen und politischen Bezüge der Geschichte. Oder über das Maß der künstlerischen Freiheit in Ungarn. Oder über die Möglichkeit, in der Formsprache des Rock mitunter auch das eine oder andere in der Menschlichkeit wohlbegründete Tabu zu bestärken, in diesem Fall das Tabu, Menschen zu töten - und sei es auch im Namen einer Utopie. -

Was verfluchen sie, die zornigen, getäuschten, verbitterten Bauleute der Rock-Ballade? Sie verfluchen jede Ideologie, die durch Verbreitung von Aberglauben die Menschen berauscht, betört und in Mörder verwandelt

So wird die Rock-Ballade über den Baumeister Klemens zur Abrechnung mit diesem angeblich so aufgeklärten 20. Jahrhundert, mit Hitler und Stalin, mit all den politischen Verbrechern, die nicht müde wurden, anders denkende oder bloß durch ihre Existenz als Störung empfundene Menschen erschießen, hängen, vergasen, erschlagen oder verhungern zu lassen; so wird die Rock-Ballade auch zum Protest gegen den gegenwärtigen politi-' sehen Terrorismus.

Dieser Protest ist so heftig, weil er von einer jungen Generation formuliert wird, von Menschen, die die schrecklichen Verstrik-kungen der vergangenen Jahrzehnte nicht erlebt haben, die das Verhängnis an Hand der Volksballade als ein uraltes Übel erkennen und die sich nun auflehnen gegen die scheinbare Zeitlo-sigkeit dieses Übels; denn der Begriff der Zeitlosigkeit erstreckt sich auch auf die Gegenwart, auf die Zukunft.

Wir plaudern noch eine Weile nach der Premiere, leeren das Glas und gehen dann schweigsam durch die menschenleeren Straßen der Stadt, und in unseren Köpfen baumeln die Körper der Gehängten und über den Dächern ziehen die Aschenwolken der Vergasten, und hinter unseren Augenlidern bluten die Opfer des Terrors in Italien und in Deutschland, und die Sterbenden in San Salvador.

Rückkehr nach Wien. Opernball. Fasching. Heringschmaus. Glückliche Stadt

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