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Mundartdichter -mundtot gemacht
Der Titel des Werkes, „Die neue deutsche Mundartdichtung“, ist für den Literaturfreund, der die exlpo-sionsartige Entwicklung des mundartlichen Textierens in den letzten Jahren miterlebt hat, recht vielversprechend - seine Lektüre jedoch leider enttäuschend. Die beiden Autoren, deren Verantwortlichkeit für bestimmte Teile des Buches nicht transparent wird, machen es sich leicht. In drastischer Schwarzweißmalerei werden der traditionellen Mundartliteratur „Versandung und Verflachung in belangloser Idylle, Heimattümelei und ,Blubo'-Zelebra-tion“ (S. 15 und ähnlich mehrfach) vorgeworfen; die sogenannte „neue“ Mundartdichtung (für Österreich etwa seit Artmann und Rühm) wird in den höchsten Tönen gepriesen und verherrlicht.
Dabei wird der Begriff Lyrik vielfach für Texte in Anspruch genommen, die mit dieser Art der Dichtkunst überhaupt nichts gemeinsam haben und ihren Platz im Tagebuch des Schreibers besser nicht mit dem Licht der Öffentlichkeit vertauscht hätten.
Die österreichische Mundartdichtung der Gegenwart spielt eine Schlüsselrolle in dem Buch, das als Einteilungsprinzip (wohl nicht in bewußter Anlehnung an Josef Nad-ler?) die deutschen Stämme und Landschaften wählt
In geradezu grotesker Weise wird (S. 142) die von den Autoren verabscheute Tatsache, daß 1950 ein Band „Bekenntnis zu Josef Weinheber“ erschienen ist, verquickt mit einer Meldung, daß 1961 52% aller Wohnungen in Österreich noch keine eigenen Toiletten und 36% keine eigenen Wasseranschlüsse hatten. Die politische Bedenklichkeit namhafter Österreicher, das Klischee von der Heurigenseligkeit und die „Herr-Karl“-Haltung werden sodann ausgiebig behandelt. Die eigentlichen literarischen Ereignisse der letzten Jahrzehnte werden bei dieser oberflächlichen Betrachtung verzerrt be-urteüt oder übersehen.
Die Abschnitte über die traditionelle Mundartdichtung erschöpfen sich in deren Verurteilung, ohne daß ihre Situation genauer analysiert würde. Daß wahren Dichtem, vielfach mit volksbildnerischem Sendungsbewußtsein, wie Lindemayr, Stelzhamer, Misson, Klopfer, Peter Rosegger, immer schon ländliche Gelegenheitsdichter und Reimeschmiede gegenüberstanden, muß eben in Rechnung gezogen werden. Die über 100 Bände österreichischer
Mundartdichtung „Lebendiges Wort“ werden entrüstet in einen Topf geworfen, obgleich sie - näher betrachtet - die verschiedensten Richtungen vertreten und die verschiedensten Wertungen verdienten.
Im allgemeinen wird für die sogenannte „neue“ Mundartdichtung mit ihrer sozialkritischen Haltung, den reimlosen Versen und ihrer teilweise „phonetischen“ Schreibung als Stichpunkt des Einsetzens das Jahr 1958 mit dem Erscheinen von „med ana schwoazzn dintn, gedichtar aus bradnsee“ (H. C. Artmann) angegeben. Hoffmann und Berlinger übersehen, daß schon zehn Jahre früher in Wien neue sozialkritische Mundartlyrik von sich reden machte: Alfred J. Ellinger mit Gedichten wie,.Frühling am Bau“, „Großstadtviertel“.
Der Auseinandersetzung mit dem Religiösen wird in dem Buch aus dem Weg gegangen. Die Tatsache, daß die älteste österreichische Dialektdichtung sich in den mundartlichen Interludien der lateinischen Jesuitendramen verfolgen läßt, wird geleugnet (S. 83).
Im übrigen wird die Fährte des Religiösen, die sich durch so viele Werke von Priesterdichtern hindurchzieht, nicht verfolgt Zu den namhaftesten Mundartdichtern Kärntens zählen in der Gegenwart die beiden evangelischen Geistlichen Gerhard Glawischnig und Otto Bunker. Keinem von beiden wird man die eingangs zitierten Schwächen nachweisen können.
Unter den Österreichern, die Erwähnung finden, seien noch Albert Janetschek, Christine Nöstlinger, Hans Haid, der kürzlich verstorbene Ossi Sölderer und Josef Zoderer (Südtirol) genannt. Die vielen Fehlenden, die inhaltlich und formal ebenfalls neue Wege eingeschlagen haben - seien es Berghofer und Mayer aus dem Burgehland, die Schwestern Heuberger aus Niederösterreich, Wölger aus der Steiermark, Rettenbacher aus Salzburg -, werden nicht einmal in eine En-bloc-Nennung einbezogen.
Die großen Verfechter der vermeintlichen „Moderne“ scheinen ein Kriterium wirklich fortschrittlicher Literatur vergessen zu haben: die. Verbindung zur schöpferischen Phantasie des anonymen Kollektivs. Schade.
DIE NEUE DEUTSCHE MUNDARTDICHTUNG. Von Fernand Hoffmann und Josef Berlinger. Hüdesheim 1978 (Reihe Germanistische Studien), öS 251,-.
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