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Nostalgie am Balkan

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Der „Dritte Internationale Thrako-logische Kongreß zu Ehren Wilhelm Tomascheks” vom 2. bis 6. Juni 1980 in Wien, galt am Eröffnungstage ausschließlich den grundlegenden Leistungen eines Österreichers, der vor 100 Jahren mit seinem Werk „Die alten Thraker / Eine ethnologische Untersuchung” die moderne Wissenschaft der Thrakologie im Donau-Balkan-Raum bis Kleinasien hin begründete. Der organisatorische Promotor und weltweit anerkannte bulgarische Thrakologe,

Christo D. Danov, hatte seinerseits diese thematische Schwerpunktbildung gefördert. Es ging um Forschungsergebnisse in den vergangenen 10 bis 15 Jahren.

Um bei dem Wiener Mittelschulpro-fessor Hofrat Wilhelm Tomaschek zu bleiben: K. H. Vlahov aus Bulgarien erklärte in seinem Referat über Tomaschek als Begründer der thrakischen Sprachwissenschaft: „Schon in der Ilias und ebenso in der griechischen Mythologie treten Thraker, thrakische Stämme und Gottheiten auf. Tomaschek sah und erkannte als erster die Bedeutung und Rolle der thrakischen Stämme, sowie auch ihre Schicht innerhalb der materiellen und geistigen Kultur der griechisch-römischen Gesellschaft... Er bearbeitete als erster das thrakische Material in einem interdisziplinären Plan, wobei er nicht nur die literarischen historischen Quellen, sondern auch die sprachlichen heranzog. Er setzte den Grund für jenen Zweig der Altertumwissenschaft, den wir heute Thrakologie nennen.”

Die 2. Thrakologen-Welttagung wurde getragen durch mehr als 150 Gelehrte aus anderthalb Dutzend Nationen - bis hin zu dem glanzvollen Engländer V. A. Wardle, bis zu der sowjetischen Epigraphikerin J. Kolossovskaja und gar bis Prof. M. Doi - Japan, der z. B. den aufrührerischen Spartakus als Thraker agnostizierte. Doch auch Götternamen wie Boreas, Dionysos, oder auch der Sängername Orpheus gehören zu dieser Charaktaristik der thrakischen Kultur. Nicht zu vergessen ein M. Garasanin aus Jugoslawien, der „Zur ethnischen Zugehörigkeit der mittelbalkanischen Bevölkerung der Bronzezeit” referierte.

Es waren selbstverständlich alle wichtigen zeitgenössischen Gelehrten des Balkan-Donau-Raumes, Südeuropas anwesend - nicht zuletzt auch, um in der „Welt der Peripherie” des Grie-chen-Römertums Abgrenzungen vorzunehmen gegenüber Hethitologie, II-lyriologie, Skythologie und anderen. Sehr beachtlich auch der Schweizer J. Dörig („Thrakiens Stellung in der attischen Politik klassischer Zeit”), der Holländer J. G. P. Best, der die prähistorische Nekropole von Varna bewertete. In vier Jahren, 1984, wird Holland den vierten thrakischen Weltkongreß ausrichten und bot jetzt schon dafür wissenschaftliche Vorleistungen.

Österreichs Akademie der Wissenschaften, Bulgariens Akademie der Wissenschaften, das bulgarische Forschungsinstitut in Wien - Haus Wittgenstein, waren die gemeinsamen Träger dieser weltweiten Begegnung der Gelehrten. Wozu all das?

Erst wenn man weiß, daß z. B. Rumäniens wissenschaftliche Asse - von Condurachi über Babef, Berciu, Bichir bis Daicoviciu und Dragan - die verwandten Daker und Geten als beharrendes autochtones Element über Ro-manisierung und andere Einflüsse beflissen herausstellen, spürt man: Fast vier Jahrzehnte nach der Kreierung der nationalen Relativitätstheorie der „Ethnogenese” durch Stalin bekundet sich im Balkan-Donau-Raum der Wille zur eigenständigen Vergangenheit, zur differenzierten Herkunft, zum nationalpolitischen Akzent sogar der Früh-und Vorgeschichte bis in unsere Tage.

Ist es ein Zufall, daß albanische Forscher die südlichen Illyrer schwerpunktmäßig als ihre Vorfahren ansprechen? So, wie es gelungen ist, den eindrucksvollen Beitrag dieser Thraker gegen griechisch-römische und spätere „Invasoren” abzuklären, soll auch gegenüber einseitigen tagespolitischen Verzerrungen der Gegenwart das Selbstbewußtsein der Balkanvölker über den Weg der Wissenschaft bestärkt werden.

Bulgariens Bildungsminister Prof. Alexander Fol, zugleich Leiter des ältesten Thrakologie-Instituts überhaupt, erklärte: „Die ethnologische Methode verpflichtet Tomaschek, sämtliche Eth-nonyme auf eine chronologische Ebene aufzustellen. Auf diese Weise erhält er eine Karte der thrakischen Stämme, die für alle Epochen gültig ist.”

Doch lassen wir von der geistigen „Unruhe” dieses Kongresses, Christo Danov, noch ergänzen: Fast sämtliche Nationalitäten der k. u. k. Monarchie haben seit einem Vierteljahrtausend die Voraussetzungen der modernen Thrakologie geschaffen.

Es folgen z. B. Ami Boues, Hochstet-ter, Jirecek, Kanitz und andere. Die Gegenwart hält nicht minder deutsche, österreichische, griechische, polnische und sowjetische Forschernamen bereit. Aus Österreich etwa: Fritz Schacher-meyr, Josef Hamm und Ernst Kirsten.

Wir haben es in Ostmitteleuropa mit einer Bewegung zum Ethnos hin, zum „eigenständigen Volk” (M. H. Böhm) zu tun, diesseits und jenseits der ideologischen Demarkationslinien.

Während in der Stalinzeit z. B. eine beträchtliche Anzahl sowjetischer Historiker in die Prähistorie und Antike „flüchtete”, vollzieht sich am Beispiel der Thrakologie der gegenteilige Vorgang: Von den Wurzeln und Urgründen her, wird die Zeitgeschichte durchleuchtet und mit einem tragenden selbstbewußten Sinngehalt ausgestattet.

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