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Palaverdemokraten wehren sich

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„Ob Wilhelm Teil gelebt hat, weiß man nicht; aber daß er den Landvogt Geßler umgebracht hat, steht fest.“ Dieses Zitat von Hans Weigel ist nicht etwa nur ein geistreiches Wortspiel, es ist eine Charakterisierung der schweizerischen Widersprüchlichkeiten, und es war insofern denn auch als Vor Spruch für einen Schweiz-Report des deutschen Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ besonders eeeienet.

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„Ob Wilhelm Teil gelebt hat, weiß man nicht; aber daß er den Landvogt Geßler umgebracht hat, steht fest.“ Dieses Zitat von Hans Weigel ist nicht etwa nur ein geistreiches Wortspiel, es ist eine Charakterisierung der schweizerischen Widersprüchlichkeiten, und es war insofern denn auch als Vor Spruch für einen Schweiz-Report des deutschen Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ besonders eeeienet.

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Dieser Schweiz-Report stützte sich aber nicht etwa nur auf ausländische Aussagen, sondern in erster Linie auf solche von berühmten und prominenten Schweizern. Der frühere sozialdemokratische Ständerat Doktor Eduard Zellweger, juristischer Berater von U Thant und nach Kriegsende schweizerischer Gesandter in Belgrad, war in dieser Beziehung besonders ergiebig, steht er doch links, aber doch nicht so weit vom Establishment entfernt, daß seine Worte einfach als maoistisch- nihilistisch abgetan werden können. Und dieser Eduard Zellweger soll immerhin von den traditionellen Landsgemeinden, also der offenen Bürgerversammlung, unter freiem Himmel nach Manier der aütgerma- nischen Thdngstätten, gesagt haben, sie seien „zu einer Palaverdemokra- tie entartet, wie siie bei afrikanischen Stämmen herrscht. Was uns freilich fehlt“, so habe Zellweger angefügt, „ist der Häuptling, der zum Schluß das Fazit zieht.“

Auch der Berner Soziologe Professor Dr. Peter Atteslander mußte im „Spiegel“-Report herhalten, soll er doch erklärt haben: „In unseren öffentlichen Ausgaben für die Bildung sind wir ein echtes Entwicklungsland. Wir rangieren irgendwo zwischen Portugal und Griechenland.“

Und der Zürcher Historiker Professor Herbert Lüthy hatte sogar ganz einfach die Demokratie oder besser gesaigt dais Funktionieren der Demokratie dn der Schweiz in Zweifel gezogen, wenn er behauptete; „Die Schweiz ist in den lebendigen oder erstarrten Formen ihres Regie-

rungssystems tatsächlich das archaischste Land des Westens.“

Der „Spiegel“-Report erstreckt sich über elf Seiten des Nachrichtenmagazins, und kiaum ein Satz entbehrt der bissigen und beißenden Behauptungien, Feststellungen, Anklagen und Kritiken. Trotzdem war vielleicht die schweizerische Reaktion auf diesen Artikel noch fast interessanter als der Bericht selbst. Die gleichen Leute, die mit schlecht versteckter Schadenfreude lächeln, wenn zum Beispiel Österreich im „Spiegel“ angegriffen wird, schrien jetzit Zeter und Mordiio. denn — nicht wahr — das ist ja doch etwas ganz anderes! Die gleichen Journalisten, die sonst vom hohen Katheder herunter ohne falsche Bescheidenheit Urteile über ganze Länder fällen, klagten die Spiegel “-Leute der Manipulation an, wobei sie fast weinerlich feststiellten, daß an diesem „Spiege!“-Report sogar zwei Schweizer — nämlich der Schweizer Korrespondent des „Spiegel“ und eine in Hamburg tätige Schweizerin

— mitgearbeitet hätten. Daß der verantwortliche Redakteur in Hamburg eiin Wiener ist, fügte man fast als Entschuldigung an. Und Ulrich Kägi schloß seinen Kommentar än der Zürcher „Weltwoche“ mit den kriecherischen Sätzen: „Die Gelegenheit zu einem zwar kritischen, aber doch halbwees objektiven Bericht über die durchaus ernsten Entwicklungsprobleme der Schweiz (welches Land hat kenne?) ist leider vertan worden. Deutsche Journalisten hätten sie vermutlich ziu nültzen verstanden.“ Dieses Anbiedem war vielleicht nötig, weil die „Weltwoche“ den „Spiegel“ sonst nicht ungern als

Quelle benutzt und eben jetzit eine längere Passage daraus, schlicht und einfach mit dem Autorenniamen eines eigenen Redakteurs versehen, abgedruckt hat.

Aber das ist ein Detail. Wichtiger ist, daß man auch in der Schweiz einmal lernen miuß, vom hohen Roß herunterzusteigen,, auf das sie während des längst vergangenen Krieges und in der weit zurückliegenden Nachkriegszeit von einem gütigen Schicksal gesetzt worden isrt. Es geht also auch gar nicht darum, ob der „Spiegel“-Artikel die Schweiz in allen Aspekten ausgewogen und objektiv richtig dargestellt hat, sondern einfach darum, daß man sich selbst nicht zu ernst nimmt und vielleicht einmal fünfe gerade sein läßt, selbst wenn es weh tut. Denn: „Eine Freiheit, die vergessen hat, daß Kritik sie nicht bedroht, sondern ehrt, ist nur noch eine behauptete Freiheit!“ Dieses Zitat von Adolf Muschg wäre hier eigentlich der richtige Schlußsatz … wenn er nicht schon der Schlußsatz des Schweiz- Reports im deutschen „Spiegel“ gewesen wäre.

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