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Prometheus ist nicht mehr Symbolfigur

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Grenzen waren für den Menschen der Neuzeit Herausforderungen und nicht Grenzen. Der Kampf gegen die Grenzen war das Lebensprinzip und das Kulturidol der westlichen Welt. Entdecker und Eroberer stehen am Beginn der Neuzeit. Forschungen und Erfindungen machen aus dem Mittelpunkt der Welt einen der vielen Planeten und aus der Schöpfung Gottes die Welt und das Werk des Menschen. Wo der Mensch Grenzen begegnete, überwand er sie und schuf Neuland. Grenzen waren da, um überwunden zu werden. Je stärker sie einer überwunden hatte, um so erfolgreicher war er. Der Erfolgs- und Leistungsmensch war das Idealbild der Neuzeit.

Es war auch gewaltig, was er schuf und entdeckte. Das Unteilbare ließ sich von ihm spalten. Verkehrswege und Zeiten wurden zu Katzensprüngen. Geräte nehmen ihm das mühsame Denken ab. Intensivstationen holen Menschen aus dem klinischen

Tod zurück. Die Kindersterblichkeit wurde drastisch gesenkt. Es ist gewaltig, was der Mensch entdeckt und schafft. Zu Recht war die Symbolgestalt der Neuzeit Prometheus, der nach der griechischen Mythologie den Menschen gemacht und das Feuer vom Himmel geholt hat.

Es ist beängstigend, was der Mensch schuf und leistete. Die Atombombe droht über unseren Häuptern. Herzinfarkt und Managerkrankheit sind der Preis für die verkürzten Wege und Zeiten. Millionen sind dem Hungertod ausgeliefert. Die Intensivstationen verlängern nicht nur das Leben, sondern auch die Leiden. Immer öfter zittert der Mensch davor, daß ihn seine Geräte nicht mehr brauchen.

Prometheus hat das Feuer vom

Himmel geholt und den Menschen gemacht. Aus der Schöpfung Gottes wurde das Werk des Menschen. Der evangelische Theologe und Publizist Heinz Zähmt stellt fest: „Die Aneignung der Welt durch den Menschen droht zur Enteignung des Menschen durch die Welt zu führen".

Die Welt des Menschen ist keine menschliche Welt geworden. Effizienz und Expansion, Produktion und Konsum machen den Menschen noch nicht zum Menschen. Zwischen der Hominisierung und der Humanisierung klaTft eine Leere auf, die als Leere des Herzens, als Leere des Lebens, als Angst und Sinnlosigkeit erfahren wird.

Der Mensch erlebt eine Grenze, die sich von ihm nicht beseitigen läßt. Das Instrumentarium, mit dem er bisher umgegangen ist, versagt. Wenn Menschsein sonstnichts ist als Leistung, wenn darin seine Identität besteht, was ist mit dem Menschen, der keine Leistungen vorzuweisen hat oder die falschen, dessen Leistungen die Mehrheit ablehnt, der sich Verfehlungen „geleistet" hat, dessen Kräfte nachlassen und der niemandem mehr zum Nutzen ist?

Hat dieser Mensch keine Identität; Hat sein Leben weder Wert, noch Sinn? Wann hat man genug geleistet? Wenn man in den Sielen stirbt? Kann man von leben reden, wenn man am Leben ist? Gehört zum Leben nicht mehr?

Goethe hat seinen „Prometheus" noch sagen lassen: „Ich kenne nichts Ärmeres unter der Sonne als euch,

Götter! Hast du nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz? Ich dich ehren? Wofür? Hier sitze ich, forme Menschen nach meinem Bild, ein Geschlecht, das mir gleich sei, zu leiden, zu weinen, zu genießen und zu freuen sich und dein nicht achten, wie ich."

Der Mensch, der sein Leben als Leere erlebt, kann nicht mehr so reden.

Der schon erwähnte Heinz Zahrnt sagt, daß Prometheus nicht mehr die Symbolgestalt unserer Zeit ist. Un-

sere Symbolgestalt ist Sisyphos, der verurteilt ist, unablässig einen Felsblock den Berg hinaufzuwälzen. Sobald der Stein aber den Gipfel erreicht hat, rollt er von selbst wieder herunter, und Sisyphos muß ihm nachgehen, um ihn aufs neue hinaufzuwälzen - und das ohne Ende.

Solange Sisyphos den Stein den Berg hinaufwälzt, gibt es Augenblicke für ihn, in denen er glücklich sein kann. Er tut etwas. Er leistet etwas. Er hat ein Ziel vor Augen. Er sieht, was er bereits geleistet hat. Der kritische Moment tritt ein, wenn Sisyphos auf dem Gipfel des Berges steht und dem davonrollenden Stein nachblickt.

Soll er heroben bleiben, ohne Stein? Mit leeren Händen? Geprellt um seine Arbeit, seine Mühe?

Soll er hinuntergehen, um den Stein wieder zu packen und ihn bergauf zu wälzen, Meter um Meter?

Es scheint, daß heute viele den Augenblick durchmachen, daß sie auf dem Gipfel stehen, aber ohne Stein. Was ihnen Inhalt des Lebens war, ist ihnen entglitten.

Soll man wieder hinuntersteigen?

Soll man aufgeben?

Gibt es Hoffnung und Sinn? Oder bleibt einem nur Resignation, ja Verzweiflung?

Es gibt eine dritte Gestalt. Sie stammt nicht aus der griechischen Mythologie. Diese dritte Gestalt hat gelebt. Sie war ein einfaches Mädchen, aufgewachsen in den Traditio-

nen seines Volkes, ohne Einfluß auf die Mächtigen und Wissenden seiner Zeit. Für diese Frau war die Welt nicht ein geschlossener Kessel, in dem sich der Dampf bis zur unaufhaltsamen Explosion verdichtet. Für diese Frau waren Leben und Welt offen.

Erfahrungen wurden für sie nicht zu Vorurteilen. Gewohnheiten wurden für sie nicht zu Gesetzen. Sie war offen, Undenkbares zu denken und Unmögliches zu wagen. „Ich bin die Magd des Herrn. Mir geschehe nach deinem Wort."

Was mit ihr geschieht, ist nichts Besonderes. Ein Kind wird geboren. Es gibt Not. Aus dem Kind wird ein Mann. Die Not wird nicht geringer. Aus dem Mann wird ein Gekreuzigter. Aus dem Gekreuzigten wird der Auferstandene. Sisyphos wird der Stein abgenommen. Prometheus erlebt, wie aus seiner Welt eine menschliche Welt wird. Maß und Ordnung, Ziel und Sinn kehren zurück. Gott öffnet die Grenze, die zwischen dem Reich des Menschen und seinem Reich ist.

Nicht der Mensch, der meint, Leistung allein genüge, um eine menschliche Welt zu schaffen, ist der Mensch, der Hoffnung bringt Nicht

der Mensch, der gebannt auf den Stein in seinen Händen schaut, ist der Mensch, der Hoffnung bringt. Zukunft, lebenswerte Zukunft, bringt der Mensch, der für die Stimme Gottes offen ist und der ihr folgt, was immer sie von ihm verlangt. Die Magd Maria hat geglaubt. Ihr Glaube hat die Welt verändert.

WILHELM MÜLLER

Pfarrer Müller hielt dieses Referat beim Adventempfang, den Kardinal König den Medienschaffenden gab.

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