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Rassistische Leidenschaften

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Ungarn soll schon sein Rostock haben. Allerdings in der Darstellung der einheimischen Medien. Flüchtlingsheime sind zwar noch nicht in Brand gesteckt worden, dafür sei das Leben des Roma-Ethnikums ernsthaft gefährdet.

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Ungarn soll schon sein Rostock haben. Allerdings in der Darstellung der einheimischen Medien. Flüchtlingsheime sind zwar noch nicht in Brand gesteckt worden, dafür sei das Leben des Roma-Ethnikums ernsthaft gefährdet.

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Diese Schlußfolgerung wird aus zwei Fällen gezogen, deren polizeiliche Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist. In einer Siedlung im Südosten wurden neulich die Häuser zweier Brüder zerstört, die die Bevölkerung seit längerer Zeit mit Raub, Erpressung und Anschlägen terrorisiert hatten. Die Betroffenen gehören der Roma-Minderheit an.

Kurz danach wurde in einem anderen Dorf ein beim Diebstahl ertapptes Ehepaar von einem Feldwächter erschossen. Auch sie waren Roma. Die Ermittlungen der Polizei sind auch in diesem Falle noch im Gange. Dies hält jedoch Vertreter der Presse nicht davor zurück, von Mördern zu schreiben und zu sprechen.

Selbstjustiz

Gewiß, in der kommunistischen Zeit hat man den Begriff mutmaßlicher Täter nicht gekannt. Doch seit mehr als zwei Jahren soll es in Ungarn einen Rechtsstaat geben und zwar für alle. Die Hüter dieses Rechtsstaates, vor allem aber die christlich-nationale Koalition, haben es jedoch bisher tunlichst unterlassen, entsprechende Garantien für die Sicherheit des Bürgers zu schaffen.

Das Vertrauen, das die Mehrheit der Bevölkerung dem Gesetz entgegenbringt, ist geringer denn je. Die Verantwortung für Selbstjustiz lastet zum Teil auf jenen Gesetzgebern, die ihren Auftrag als eine Herausforderung zu parlamentarischen Parteifehden interpretieren.

Mittlerweile geht es aber nicht mehr um Tatsachen, sondern wieder einmal um Interpretationen, die in zahlreichen Fällen auch die Schlußfolgerung zulassen, es herrsche im Lande bereits eine Pogromstimmung ohnegleichen. Aufgeschreckte Politiker und Landesväter sprechen vom tätlichen Rassismus, und der als einheimischer Vorkämpfer der Menschenrechte bekannte Wallenberg-Verband vermutet rassistisch geladene Leidenschaften im Hintergrund der beiden Tragödien.

In der Presse sowie im Funk und Femsehen tauchen Berichte auf, deren Logik aus dem nationalsozialistischen kommunistischen Gedankengut entliehen sein könnte: demnach sei wahr, was der Sache nütze, alles andere müsse in diesem Zusammenhang betrachtet werden. Was nun diese Sache ist, wird anscheinend von jenen bestimmt, die sich anschicken, die öffentliche Meinung zu formen.

Ausgegangen wird jedenfalls von den zweifelsohne reichlich vorhandenen Vorurteilen, die gegen die Angehörigen des Roma-Ethnikums gehegt werden; sie weiter zu schüren, dürfte das Gebot der Stunde sein. So treten selbsternannte Vertreter der Volksgruppe in Erscheinung und beschuldigen „die Ungarn, mit der Ausrottung der Zigeuner bereits begonnen" zu haben. Moderatoren der Sendungen schweigen dazu oder pflichten ihnen sogar auch noch bei.

Tendenziöse Berichterstattung

Umfragen haben ergeben, daß nach Tagen tendenziöser Berichterstattung immer mehr Bürger der Meinung sind, die Selbstjustiz sei der richtige Weg. „Den Zigeunern muß es endlich gezeigt werden." Somit sind auch die vorweggenommenen Aussagen bestätigt, der Kreis hat sich geschlossen.

Mitglieder der liberalen, radikalen und sozialistischen Opposition, die neulich aus einem Aufsatz des stellvertretenden Vorsitzenden des Demokratenforums Ist-vän Csurka das Herannahen des Faschismus herausgelesen haben (FURCHE 37/1992), sehen sich bestätigt.

Es ist freilich leichter, ideologische Phantome im Geiste der nationalsozialistischen und kommunistischen Propaganda aufzubauen, als den Weg anzutreten, der zum Abbau der letztlich jeden demütigenden Vorurteile und zu jenem mündigen Bürger führt, ohne dessen Bewußtwerdungsprozeß eine Demokratie nicht existieren kann.

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