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Religion ohne Gott?

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Zu den Widersprüchlichkeiten unserer Zeit gehört, daß viele Bereiche des Lebens säkularisiert werden, andererseits eine neue „Religionsfreudigkeit" entsteht. Eine Religion allerdings, die Johann Baptist Metz vorsichtig „Mythenfreudigkeit" bezeichnet. Sie breitet sich unter Intellektuellen aus, auch unter Managern, „die von ihren elektronisch vernetzten Arbeitsplätzen zurückkehren und deren Phantasien sich vom antlitzlosen Computer erholen wollen".

Eine Religion, „als Glücksgewinnung durch Leid- und Trauervermeidung, als Beruhigung vagabundierender Ängste, als mythische Seelenverzauberung, als psychologisch-ästhetische Unschuldsvermutung für den Menschen, die alle eschato-logische Unruhe im Traum von der Wiederkehr des Gleichen in Seelenwanderungs- und Reinkar-nationsphantasien still gelegt hat". Und die Befriedigung solch „religiöser Bedürfnisse" sucht man nicht in großen Religionsgemeinschaften oder Kirchen, sondern anderswo.

Solche Entwicklungen müssen besonders uns Christen zum Nachdenken anregen.

Der moderne Mensch schaut aus nach Transzendentem, ist also gar nicht nur „erdverhaftet". Warum greift er nicht zur christlichen Botschaft? Der heutige Mensch ist nicht so selbstbewußt, wie er tut, er ist voller Ängste. Warum gibt ihm christlicher Glaube und Sakrament nicht mehr Trost und Heilung? Er sucht „Seelenmei-

ster", auch bergende Gemeinschaft. Findet er sie in unseren Kirchen nicht?

Jeder, auch der Mensch unserer Tage, will glücklich werden. Aus welchen Quellen schöpft er? Braucht er wirklich Gott nicht, oder hat er nur den Gott nicht gefunden, der seine Sehnsucht stillt?

Herkömmliche Seelsorge muß sich angesichts dieser neuen Form von „Religiosität" anfragen lassen: Ob sie die wahren Lebensprobleme des Menschen anspricht. Ob ihr Zuspruch ermutigt, oder eher moralisierend (ver-)urteilt. Ob das vermittelte Gottesbild zur Gottesbegegnung führen kann. Ob ihre Symbole und Zeichen noch verstanden werden. Ob deutlich genug wird, daß „der Mensch der Weg der Kirche ist" und nicht umgekehrt.

Alle aber, die gerade solch „sanfte Religiosität", wie Metz sie schildert, suchen, darf man wohl fragen, ob dahinter nicht auch eine große Bindungsangst steckt. Angst vor einer Lehre, die nicht nur tröstet und entschuldigt, sondern Konsequenzen fordert. Angst vor der Bindung an eine Gemeinschaft, die man aber nur als tragend erleben kann, wenn man selbst mitzutragen bereit ist. Angst, einem Gott zu begegnen, der einen - gerade in seiner Liebe - zu sehr Bestimmtem herausfordern könnte.

Religion, ja - Gott nein! Klingt nicht nur paradox, ist es auch. Ob hinter dieser neuen „Religionsfreudigkeit" nicht mehr Unruhe nach Gott steckt, als man zugeben will?

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