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Sehnsucht nach Identität

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Erst durch die Zwischenbilanz wird einem bewußt, wie rasch sich begonnene Initiativen weiter- entwickeln und ausbreiten. Wir gehen in Niederösterreich (NÖ) in das sechste Jahr der Dorferneue- rung, welche mit der Beschlußfas- sung der ersten Dorferneuerungs- richtlinien, am 12. Februar 1985 durch den NÖ Landtag, begonnen hat. Die Grundsätze, die mit die- sem Start im niederösterreichischen Modell niedergeschrieben wurden, nämlich eine geistige, kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftli- che Identität wiederherzustellen,

haben wir von Anfang an verfolgt, um den Dörfern als kleinste Ein- heiten des ländlichen Raumes re- alistischere Entwicklungschancen zu eröffnen und Eigeninitiativen der Bevölkerung zu unterstützen.

Aus den vier Testorten, in wel- chen die blaugelben Dorferneue- rungsbemühungen gestartet wur- den, sind in der Zwischenzeit 250 Orte geworden, die sich für die Aktion angemeldet haben. Ein be- sonderer Ansturm erfolgte mit Beschlußfassung der Dorferneue- rungsrichtlinien im Jahr 1985. Damals kamen fast 100 Anmel- dungen herein. Der zweite große Run zur Dorferneuerung erfolgte Ende 1988 mit der Gründung der Dorfwerkstatt Hollabrunn, einer modellhaften regionalen Selbstor- ganisation einer bezirksumfas- senden Dorferneuerung, welche einen Anstieg auf fast 200 Dorf- erneuerungsorte brachte.

Von den erarbeiteten Dorfer- neuerungsplänen sind heute bereits

über 40 fertiggestellt und bilden nun die Grundlage für die Verwirk- lichung eigener Vorstellungen und Lösung von georteten Problemen durch das Setzen konkreter Reali- sierungsmaßnahmen. Der Dorfer- neuerungsplan ist kein Rezept, kein Vollzugsinstrument, sondern ein Entwicklungskonzept, eine gemein- sam erarbeitete Willensäußerung zur Gestaltung der engeren Hei- mat, welches flexible Möglichkei- ten der Umsetzung offen läßt.

Dies war das Ziel am Beginn unserer Aktion, doch von einem solchen Ideal sind wir noch weit entfernt. Ohne sich Illusionen hin- zugeben, es ist nie erreichbar. Die Dorferneuerung darf nie aufhören, sondern muß Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr weiterge- hen. Dorferneuerung ist ein Pro- zeß, eine ständige Anpassung an gesellschaftliche und wirtschaftli- che Veränderungen von Innen und Außen, wobei ökologisches Denken und Handeln Vorrang hat.

Auch in einer statistischen Er- folgsbilanz ist nicht alles blaugelb was in Niederösterreich glänzt. Wir haben nach außen hin bereits erste sichtbare Erfolge. Alte Milchhäu- ser wurden in Gemeinschaftshäuser umgebaut, Dorf plätze gestaltet, alte Volksschulen revitalisiert, Bäche renaturiert, Dorffeste mobilisiert, viele positive Beispiele der breiten Palette eines ganzheitlichen um- fassenden und vernetzten Ansatzes der Dorf erneuerung. Aber diese er-

sten sichtbaren Erfolge werte ich auch als große Gefahr für die Be- wegung, denn Dorf erneuerung kann nur dann eine treibende innovative Kraft im ländlichen Raum und zu einer Bewegung und Gesinnung werden, wenn wir uns über die äußerlichen Zeichen hinweg auch darauf besinnen, was hinter den Fassaden der Häuser, hinter den Gesichtern der Menschen, hinter dem Äußerlichen der Dorfgemein- schaft wirkt und bewirkt wird. Von Anfang an bemühen wir uns dar- um, die sichtbare Dorferneuerung nicht als alleiniges Zeichen eines

Erfolges zu sehen, sondern vielmehr die inneren Veränderungen in den Herzen der Menschen und in der „Dorfseele" zu erkennen. Eines ist aber sicher: Die Erneuerung darf nicht bei den Hausfassaden enden, sondern muß sich in den Gesichtern der Menschen widerspiegeln.

Oft sind es unterschiedliche po- litische Instrumente, welche für die Dorfpolitik vorhanden sind. Aber eines ist überall gleich, nämlich die Sehnsucht nach dem selbstbe- stimmten und eigenverantworteten Dorf. Und diese Sehnsucht der Dörfer nach Identität kann nur

durch die Dorfbewohner selbst erfüllt werden.

Der Beginn einer örtlichen Dorf- erneuerungsaktion ist das Ak- tivwerden der Bürger, die zunächst die Bereitschaft erklären, selber Hand anzulegen und bereit sind, sich selbst den Kopf zu zerbrechen, wo die Zukunft ihres Dorfes liegen kann. Der soziale Aspekt der Dorf- erneuerung fordert die Fähigkeit zur Selbstorganisation der Dorf ge- meinschaft. Die Aufgabe einer sol- chen „örtlichen Arbeitsgruppe", welche später zwanglos in einen Verein übergeführt wird, ist schnell umschrieben: Sie soll sich in alles einmischen, was die örtliche Ge- meinschaft betrifft. Dies soll nicht heißen, daß sie an bestehenden Planungen, Absichten und Mei- nungen nur Kritik üben, oder Lo- beshymnen singen soll. Nein, die örtliche Initiativgruppe muß an allen kommunalpolitischen Ent- scheidungen von Beginn an teil- nehmen. So bildet der Dorfer- neuerungsverein eine Sammel- und Verteilerstelle von Informationen, Meinungen, Kritiken und Vorschlä- gen für alle Bürger. Es gibt schon fast 200 solcher Initiativgruppen.

Die Dorf erneuerung ist zur größ- ten „Bürgerinitiative" des Landes und damit größtem Hoff- nungsträger für eine politisch mündige Dorfbevölkerung gewor- den. Aus der „Anlaufzeit" der NÖ Dorferneuerung kommen wir in eine neue Phase: In den kommenden Jahren soll die von „Oben" initiier- te und von „Unten" getragene Erneuerungsbewegung immer mehr von der Abhängigkeit der Verwal- tung und zentraler Stellen losge- löst und dezentralisiert werden.

Der Autor ist stellvertretender Landeshaupt- mann von Niederösterreich.

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