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Superman oder: Ruf nach dem Engel

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Über die Wolkenkratzer von New York fliegt er hinweg. Verirrte Raketen lenkt er eigenhändig auf die richtige Bahn. Er verändert die physikalischen Gesetze. Er ist unverletzbar und unbesiegbar. Er hilft den Guten und bestraft die Bösen. Zwischendurch muß er sich mit dem überfüllten Aufzug herumärgern und mit den Launen des Chefs. Denn er sieht zwar wie ein Mensch aus, führt auch ein menschliches Leben, ist aber doch kein gewöhnlicher Mensch. Er ist der Superman: eine Sehnsucht, ein Archetyp, eine Legendenfigur.

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Über die Wolkenkratzer von New York fliegt er hinweg. Verirrte Raketen lenkt er eigenhändig auf die richtige Bahn. Er verändert die physikalischen Gesetze. Er ist unverletzbar und unbesiegbar. Er hilft den Guten und bestraft die Bösen. Zwischendurch muß er sich mit dem überfüllten Aufzug herumärgern und mit den Launen des Chefs. Denn er sieht zwar wie ein Mensch aus, führt auch ein menschliches Leben, ist aber doch kein gewöhnlicher Mensch. Er ist der Superman: eine Sehnsucht, ein Archetyp, eine Legendenfigur.

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Er kommt von einem fremden Planeten. Sein Vater hat ihn auf die Reise geschickt und dieser würdige, allwissende, leicht melancholische Herr steht ihm offenbar weiterhin bei. Superman ist für die Welt der Comic-strips ersonnen, zehntausendfach gezeichnet und nun auch als Filmheld vermarktet worden.

Er flickt berstende Kontinente. Eine Kitschfigur? Dann ist auch Herkules eine Kitschfigur und mit ihm gehören alle seine mythologischen Geschwister dem Kitsch an. Superman ist stramm und schüchtern, tatkräftig und geheimnisvoll. Er beherrscht die Materie und ist beherrscht von einer Mission. Er ist der Engel einer säkularisierten Welt.

Wir sitzen im Kino. Es ist ein großes Kino, bis zum letzten Platz gefüllt. Die Zuschauer sind meistens junge Leute. Viele kneten Kaugummi zwischen den Zähnen; sie benehmen sich ungezwungen, lachen, seufzen, applaudieren; sie halten gelegentlich Händchen und drücken dem Engel die Daumen.

Was ist in diesen letzten Monaten, während dieser letzten Jahre geschehen? Superman umfliegt die Frei-

steht Hollywoods Geist ist es, der uns aus dem Film entgegentritt. Das Phänomen ist mächtiger; vielleicht dürfen wir es Zeitgeist nennen.“

heitsstatue. Applaus. Superman hört die Botschaft seines fernen Vaters. Ergriffenheit. Superman liefert die Bösen im Gefängnis ab. „Danke“, sagt der Gefängnisdirektor. „Keine Ursache“, antwortet Superman, wir alle wollen ja nur das Gleiche. Ende des Füms. Applaus.

Das Gleiche? Was wollen wir denn, wir, die da händchen- und daumenhaltend im Zuschauerraum sitzen, fiebernd vor Begeisterung, über die eigene kindische Veranlagung lächelnd, und doch - allen Ernstes -von einer gemeinsamen Sehnsucht erfüllt?

Es ist nicht allein die wohlüberlegte, die routinierte Wirkung der Traumfabrik. Über die Rankünen von Hollywood vermag die wache, grinsende Skepsis ruhig lächeln, gelegentlich auch grinsen. Nicht Hollywoods Geist ist es, der uns aus dem Film entgegentritt Das Phänomen

ist mächtiger; vielleicht dürfen wir es Zeitgeist nennen. Denn das Kalkül der Filmemacher trifft eine allgemeine Stimmung, entspricht einer Atmosphäre, widerspiegelt eine ganz bestimmte Disposition.

Superman wird nicht nur in den Vereinigten Staaten gefeiert. Seinen Erfolg in den USA könnte man mit der gewohnten europäischen Überheblichkeit abtun. Sagen wir: Ein modernes Märchen für naive Gemüter. Schluß, aus, fertig. Aber der Erfolg beschränkt sich nicht auf Amerika, er ist weltweit; und weltweit ist auch jene Stimmung, Atmosphäre, Disposition, die bei solchen Filmen die Kassen klingeln läßt.

Aber nicht nur bei den Filmen und nicht nur die Kassen. Etwas ist in den letzten Monaten, während der letzten Jahre in Bewegung geraten: Menschen treten hervor, die bereit sind, das schwere und schöne Schicksal der Legendenfiguren auf sich zu nehmen. Stehen wir an der Schwelle eines neuen Spiritualismus?

Dieser Spiritualismus hat die unterschiedlichsten Verkörperungen und Ausdrucksformen. Der ehemalige Erzbischof von Krakau, der nun in Rom residiert, zögert ebenso wenig, die Nüchternheit des technischen Zeitalters im Zeichen einer höheren - weil von Inspiration geleiteten - Sachlichkeit zu überwinden -wie jener in Khumein gebürtige islamische Theologe, 'der gegenwärtig damit beschäftigt ist, im Iran mit den Mitteln des Spiritualismus die Weltgeschichte zu formen.

Wir Mitteleuropäer können den inneren Reifeprozeß des Karol Wojtyla leichter nachvollziehen und das Auftreten des Papstes Johannes Paul II. in Lateinamerika auch im Zeichen eines heimlichen Lokalpatriotismus mit mehr Anteilnahme begreifen. Doch das sind Rücksichten geopoli-tischer Art.

Wichtiger erscheint, daß Johannes Paul II. in Lateinamerika ebenso eine Vision verkörpert wie der Ayatullah Khumeini im Iran - die Ubereinstimmung ist gegeben, auch wenn die beiden Visionen unterschiedlichen Quellen entsprungen sein sollten: Denn der Papst trat auf als Vertreter der persönlichen Freiheit gegenüber der kollektivistischen Dogmatik, während der Ayatullah vielleicht die Dogmatik der Vergangenheit gegen die Reform plane eines aufgeklärten Despoten vertritt - den Österreichern kann diese klassische Konstellation

des Josephinismus gewiß nicht fremd sein.

Der Riesenerfolg des an sich nicht sehr wichtigen Filmes „Superman“ ist bloß ein Zeichen, ist bloß die

Spitze des Eisberges, wie man so schön sagt. Johannes Paul II. sqheint auch den Zeitgeist zu sub-limieren. In Persien will die auf den Straßen, demonstrierende Menschenmasse offenbar den Mann der Emotion, selbst wenn dieser Parolen wie „Selbstbeschränkung“ und „Pu-ritanismus“ auf seinen Fahnen trägt.

An Vorzeichen hat es nicht gefehlt. Da und dort gab es und gibt es energische Aufbrüche und Rebellionen dieses neuen Geistes. Sie offenbaren sich in den zentripetalen Bewegungen, im romantischen Partikularismus, im wirklichen oder vermeintlichen Freiheitsstreben der Basken und der Katalanen, der Korsen und der Bretonen, der Waliser und der Schotten, der Bewohner des Berner Juragebietes, um nur ein paar westeuropäische Beispiele zu nennen -vom Disput über die Existenz eines mazedonischen Volkes und über die Diskussionen in Siebenbürgen nun gar nicht zu reden.

Nationale, mikronationale Begeisterung hätte nach den Berechnungen der großeuropäischen Techno-

kraten durch die Gemeinsamkeit einer universell gültigen Technik verschwinden sollen, während nach marxistischer Ansicht der Nationalismus als Derivat der frühkapitali-

stischen Entwicklung mit der Beseitigung des Kapitalismus natürlich ebenfalls hätte verschwinden müssen. -

Er ist aber virulent. In ihm artikuliert sich die Unzufriedenheit mit den Leitbildern der postindustriellen Gesellschaft, die im Westen wie im Osten nur ökonomisch fundiert sind.

„Europa fröstelt, wir sind zu Entwicklungsländern des Fühlens geworden.“

Doch gab und gibt es auch noch andere Zeichen. Unbedeutende, wie die Mode: ländlich, bäuerlich, zum Zünftigen und zur Romantik eines Zweitwohnsitzes neigend. Ungeheuerliche wie der kollektive Selbstmord jener merkwürdigen Sekte des Jim Jones im Urwald. Aber auch: die sanfte Wiedergeburt des Beisel-Kultes in Wien. Das Interesse für Naturheilkunde und für verschiedene

echte oder falsche Einführungen in die hygienischen und gymnastischen Praktiken der indischen Weisheit.

Als bedeutender werden anologe Stimmungen und Stellungnahmen erachtet, die auf dem Wege von Volksabstimmungen die Energiepolitik und dadurch auch die Politik eines Landes entscheidend beeinflussen können: Auch ein Teü der Kernkraftgegner glaubt an die Vision eines neuen Lebens viel mehr als an die Berechnungen der Techniker.

Sicherlich gibt es auch Zeichen für das Weiterwirken der bisherigen vorwiegend positivistischen Tendenz in nicht geringer Zahl; auch der naive Rationalismus feiert immer noch manche Triumphe; die Änderungen vollziehen sich meistens zö-

„Die Sehnsucht nach Erlösung ist offenbar ein heftiger Trieb, und Diskussionen gibt es bloß über die Art und Weise, wie diese Erlösung ... möglich wäre.“

gernd und widerspruchsvoll. Dennoch sind die Vorzeichen des Neuen nur allzu deutlich.

Erleben wir einen Fortschritt zum Spirituellen? Die Hippies waren nur Vorboten; die Auflösung des Realismus und das Erscheinen einer Zeichensprache in der Kunst war nur ein Vorzeichen; der Überdruß an der Technik in den hochentwickelten Industriestaaten ist nur ein Phänomen unter vielen. Europa fröstelt, wir sind zu Entwicklungsländern des Fühlens geworden.

Unsere braven (und wenn nicht immer braven, dann nur selten wirklich schurkischen) Politiker mit ihren zwischen wohlwollender Sachlichkeit und verlogenem Stimmfang pendelnden Stellungnahmen vermögen es nicht, unseren Durst nach Erlösung zu befriedigen. Lösungen ersetzen die Erlösungen nicht. Brach liegt die Phantasie.

Das ist der Augenblick, in dem der Superman erscheint, nicht der Nietz-sche'sche Ubermensch (denn der ist in seinem Ausleben der totalen persönlichen Freiheit brutal) und auch nicht der gefürchtete starke Mann, der Diktator, der die Macht zum Prinzip und dadurch das Böse zum Hauptmotiv des gesellschaftlichen Seins macht. Was hier hervortritt, ist eine handfeste Ahnung von der Möglichkeit einer persönlichen Erlösung, und zwar nicht mittels Geld, sondern über den kostenlosen und beglük-kend unsicheren Weg des Geistes.

Denn die Sehnsucht nach Erlösung ist offenbar ein heftiger Trieb, und Diskussionen gibt es bloß über die Art und Weise, wie diese Erlösung durch ein Primat der Phantasie bei wohlwollender Befriedigung auch der körperlichen Bedürfnisse möglich wäre: mittels Kollektivvertrag und TV oder durch die Heilige Inquisition, auf dem Weg des christlich oder unchristlich geführten Klassenkampfes oder mit der Hilfe von persönlicher Askese, im Zustand der lustvollen Ekstase oder am Rand des Wahnsinns, wo das Individuum im Sinne des Existentialismus bereit ist, sich in das Chaos einer ungeahnten Freiheit zu werfen.

Die Hoffnung auf Erlösung zeigt in jedem Zeitalter verschiedene und in manchen Epochen sogar mehrere Gesichter- aber es ist immer dieselbe Hoffnung, die den Pharao Tuth-Mo-sis seine Pyramide bauen und Thomas Münzer seinen Bauernkrig führen, den Albert Einstein seine allgemeine Relativitätstheorie entwerfen und die irischen Christen ihre Bomben werfen läßt.

Nach der Zeit der Ubersättigung und der angeblich genau berechenbaren Quantitäten ertönt der Ruf nach dem Engel. Es könnte sein, daß wir darangehen müssen, die Zeit des neuen Spiritualismus zu begreifen, zu gestalten.

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