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Theoretischer Herzinfarkt

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Graue Theorie, analog dem „theoretischen Herzinfarkt“, den Donha Margarida gegen Schluß ihres rund eineinhalbstündigen Monologs erleidet, blieb in weiten Passagen Roberto Athaydes Bühnenerstling „Auftritt Donha Margarida“, den die Basler Komödie zwei Jahre nach seiner brasilianischen Uraufführung und einem kurzen Intermezzo im Pariser Theater am Montparnasse als deutsche Erstaufführung brachte. In einem verzweifelten Ansturm auf alles, was den in übertragener Bedeutung präsentierten „Lehrstoff des Lebens“ betrifft, mutet sich der jugendliche, 1949 in Rio de Janeiro geborene Autor eine ganze Menge zu und erreicht damit letzten Endes nur kurz anvisierte Gemeinplätze ohne Tiefgang.

Geprägt von den Verhältnissen in Lateinamerika und seiner Studienzeit in den USA und in Europa, versucht er seine Ideologie von der Anpassung und Unterwerfung einer gequälten Menschheit gegen ihren inneren Druck und ihre Sehnsüchte am Beispiel einer Schulklasse und ihrer im Zwiespalt ihres Auftrages befindlichen Lehrerin aufzuzeigen. Doch der Probleme sind zu viele: Athayde packt alles in sein Stück, was landauf, landab im Argen liegt, und nimmt zusätzlich Zuflucht zu zahllosen Symbolismen. Da werden Dias projiziert, die in äußerster Ironie das Gegenteil des Behaupteten beweisen, ein Skelett wird abrupt zerlegt, daß die Teile nur so fliegen — freilich nicht ohne zuvor geküßt zu werden. Ironie, Sarkasmus, Autorität und echter Wille zum guten Zweck wechseln in immer hektischerer Folge. So geraten nacheinander so ziemlich alle Bereiche des Lebens unter die kritische Lupe: Wissenschaft und Gesellschaft, Glück und Unglück, Freiheit im Leben und Sterben und — in ganz besonderem Maße — Sexualität und Kirche. Immer neue Textwiederholungen sollen es einhämmern — aber sie ermüden auch, statt aufzurütteln. Da nützen selbst deftige Formulierungen und vulgäre Ausdrücke, die sich ständig in den imaginären Dialog zwischen Lehrerin und Schüler hineindrängen, wenig, und die ergänzenden, eindeutigen Zeichnungen Donha Margaridas auf der Schiefertafel sorgen neben manch anderem eher für Lacher als für Beklemmung — denn so witzig kann der Autor dies auch wiederum nicht gemeint haben.

Immerhin, ein faszinierendes Stück für eine Schauspielerin, und Rosel Schäfer (Donha Margarida) verstand es, diese Tatsache genußreich und virtuos zu nützen. Sie war in jeder Nuance die blendende Protagonistin voller Wandlungskraft und Emotion bis zur Erschöpfung. Begeistert und nachdenklich, weinend, lachend, bös und wieder lieb, voller Eifer — bis sie der theoretische Herzinfarkt am Boden niederstreckt. Werner Dügge-lin, Exhausherr in Basel, inszenierte dies im Bühnenbild von Wolfgang Mai (kahle Schulklasse bis in den Zuschauerraum hinein mit blutrünstiger Pietä auf alten Autoreifen in einer Wandnische).

Allein schon die Tatsache, ihren vielgeliebten ehemaligen Intendanten zumindest als Gastregisseur wiederzuhaben, sicherte im Verein mit Rosel Schäfer den enthusiastischen Beifall des nur knapp besetzten Premierenhauses.

Inzwischen hat der brasilianische Autor, der jetzt in Paris lebt, eine stattliche Reihe weiterer Stücke geschrieben, außerdem auch einen Roman. Die Zukunft wird zeigen, ob hier ein entwicklungsfähiges Talent im Heranreifen ist.

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