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Tod in Zeitlupe

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Zuletzt ertönen Maschinengewehrsalven. Die Mitglieder der „famüy“ treten einzeln ans Fenster wie zur Hinrichtung. Regisseur Peter Heeg läßt sie im Zeitlupentempo zusammensacken, auf den Boden rollen, zur Ruhe kommen. In Stille endet, was zeitweise kaum zu ertragen war. Denn diese Inszenierung des zweiteiligen Stückes „The Famüy“ - das Theater der Courage spielt nun Teü zwei - des Holländers Lodewijk de Boer, der fünf Jahre lang Geiger im berühmten Concertge-bouw-Orchester war, bevor er zu schreiben begann, strapaziert das Publikum bis an den Rand des Erträglichen. Wer in der Kunst Schönheit sucht, sollte keinesfalls hingehen. Schönheit wird nicht geboten. Nur Häßlichkeit, Ausweglosigkeit, Verkommenheit Und Wahrheit

Das Stück strapaziert nicht nur schwache Nerven. Es ist eine Folter vor allem auch für jene Sensibilität, die in dem Bewußtsein wurzelt, daß hier zwar „gespielt“ wird - sich aber das Vorgespielte täglich ereignet. Es ist ein Stück von menschlichen „Kloakenratten“ (Textzitat), die sich vergeblich am allzu glatten Rand der Gesellschaft festzukrallen versuchen. In diesem Stück wird der unterste Bodensatz dieser unserer Gesellschaft nicht auch noch als „lebensunwert“ (wie immer man das heute auch umschreibt) diffamiert Es ist die Tragödie der Grenz-debüen, denen niemand eine Chance gibt Zwei Mitglieder dieser aus drei Geschwistern bestehenden, total isolierten Familie sind grenzdebil, einer ist „nur“ Neurotiker, ausgerechnet an dieser Neurose scheidet die einzige aussichtsreiche Beziehung zur Außenwelt.

Die Handlung hat zwei Dimensionen - die der Beziehung innerhalb der Gruppe und die der Beziehungen nach außen. Die Richtigkeit der Darstellung ist atemberaubend, ist beklemmend, ist ein klinisch ebenso wie dramaturgisch vollkommen überzeugendes Zu-standsbUd. Ein grauenhaftes Zu-standsbild, ungeschönt, ohne „positive Ausblicke“, wie das Leben dort, wo das Stück spielt. Alles hat hier seinen Platz, wie in einem Polizeiakt, wie in einer Krankengeschichte. Klinisch richtig, daß sich nicht der aggressive Kü, der das Messer so schnell und so oft in der Hand hat, sondern die stumme Gina letzten Endes als gefährlich erweist. Die Aggressivität dieser Menschen wurzelt in ihrer Angst. Gina hat die meiste Angst - und tötet aus Angst. Sie reagiert wie ein in die Ecke getriebenes Tier.

Beängstigend richtig dargestellt die Beziehungen zur Außenwelt: Die Umwelt, mit der diese Menschen in Kontakt kommen, kann nicht intakt sein. Die Partner und Gegenspieler der Debilen sind die Halbkriminellen und Kriminellen. Die Oberwelt er> scheint nur in der Symbolfigur des Blammer.

Fäkalworte sind noch das Harmloseste an diesem Stück. Die Kraßheit der Darstellung setzt neue Maßstäbe -wenigstens für Wiener Verhältnisse. Aber das sollte nur die Entscheidung beeinflussen, ob man sich diesem Stück aussetzen will, nicht aber das Urteil darüber. Das Urteil über das Stück, das Ja oder Nein dazu, wird von der Haltung bestimmt, die der Autor diesen seinen Geschöpfen gegenüber an den Tag legt.

Die ist das Positive, das Großartige an diesem Stück, der einzige Lichtblick. Die Grundhaltung dieses Stük-kes ist auf den einfachsten christlichen Nenner zu bringen. Er heißt Nächstenliebe. Und in ebendieser seiner Nächstenliebe wurzelt der Realismus des, Autors de Boer. Er zeigt die Mitglieder dieser „family“ nicht als hartgesottene, böswillige Außenseiter, die sich ausschließen, sondern als die Ausgeschlossenen und Ausgestoßenen. Im ersten Teil haben sie die völlig illusionistische Hoffnung gehätschelt, zu einem Geschäft zu kommen. Im zweiten Teil hofft Kü, per Autostopp in ein anderes Land reisen und dort vielleicht einen Bauernhof erwirtschaften zu können. Sehnsucht nach kleiner, nach kleinster Bürgerlichkeit. Illusion, vor sich selbst davonlaufen zu können. Anderswo ein anderer sein zu können.

Gespielt wird so, daß zwei der tragenden Säulen dieser Vorstellung, der 22jährige Johannes Seilern (Kil) und Doris Mayer (Gina), daraufhin bereits an größere Häuser engagiert wurden.

Um nichts weniger gut ist Michael Gampe als Doc, als „Boß“ der famüy, als Schwergeschädigter unter Zerstörten. Mimi Kilinger macht die schwierige Rolle der Frau, die ihre Liebeswahl in diesem Milieu trifft, einsichtig, einsehbar. Axel Schanda, Sigrid Farber: Gäste aus der Halbwelt, keineswegs unheimisch in der Gosse. Helmut Schleser liefert eine dämonische Uberzeichnung des Sendboten aus der unbarmherzigen Oberwelt. Agnes Laurent schuf ein beängstigend milieugerechtes Bühnenbüd. Das nahezu photographische Abbild des inneren und äußeren Elends im Abbruchhaus.

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