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Unser Heimgang hat längst begonnen

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Die älteste Benediktiner-Abtei in der Schweiz ist die von Disen-tis, hochaufragend zwischen Lu~ komanier- und Oberalppaß gelegen. Ihre Äbte und Fratres waren und sind, wie die ganze Landschaft hier im Nordwesten von Graubünden, keltischer Herkunft: untersetzt und kraftvoll. Weitläufig bauten sie sich vor dreihundert Jahren Kirche und Kloster neu in schwierigem und kostbarem Gelände am Hang — winzig dagegen liegt der Friedhof, wie ein Vorgarten anzuschauen, an der Kirchenpforte.

Gußeiserne Kreuze, keines vom anderen unterschieden, zeigen Namen und Lebensdaten an: Geburt, Gelübde, Tod. Ein schmaler Fußweg trennt die Gräberreihen. Knapp einen Meter breit sind sie; die Toten müssen sich unter dem Weg mit den Füßen berühren und Gemeinschaft über ihr irdisches Leben hinaus miteinander behalten.

Daß wir über den Tod hinaus miteinander verbunden bleiben, wird hier besonders sinnfällig. Diese bleibende Nähe hat ihren Hauptgrund aber in dem Satz des christlichen Glaubens, daß Leben und Tod nicht aus der Nähe Gottes führen.

Weil er uns nahekam, in Schöpfung, Erlösung und Heiligung, brauchen wir keine Fremde zu fürchten."Sie mündet immer in der Heimat. Leben und Sterben, Zeit und Ewigkeit gehören zusammen, weil beide dem gleichen Herrn gehören. Wer sie, wie es in unseren Kliniken geschieht, voneinander trennt, macht beide gerade dann einsam, wenn sie einander besonders brauchen.

Der Heimgang eines Christen beginnt eben nicht erst, wie es unsere Nachrufe und Grabinschriften vermuten lassen, mit der Stunde des Sterbens, sondern hat in dem Augenblick begonnen, da über unserem Leben das Wort von der ewigen Heimat gesprochen, im Sakrament bekräftigt und von der glaubenden Gemeinde in Lob und Anbetung bestätigt wurde. Der Heimgang hat längst begonnen.

Die frühchristliche Kunst zeigte in den Todeskammem gerade jenes Bild, das wir fast nur noch Kindern zukommen lassen: Christus als der gute Hirte mit dem geborgenen Eigentum auf den Schultern. Dein Stecken und Stab trösten mich. So heißt es im 23. Psalm, dem Urbild des guten Hirten. Finstere Täler können nicht mehr schrecken: ich fürchte kein Unglück,Du bist bei mir. Das gilt, nochmals, vom Leben des Christen wie von seinem Sterben.

Wenn Leib und Seele sich trennen müssen, ist es ja wahrhaftig ein furchtbares Geschehen. Daß der Tod im Kuß kommt, wie es jüdische Tradition sagte, wie das Ziehen eines Haares aus der Milch: wer wünschte sich das nicht? Meist ist es anders. Dem Lebenskampf folgt der Todeskampf.

Die Liturgie der Ostkirche beschwört für diesen Augenblick das ganze Heer Erzväter, Engel und Heilige, um dem Sterbenden beizustehen. Ohne jede Illusion sagt es der chVistliche Glaube, im Gegensatz zu wohl allen Weltreligionen: Tod und Sünde zeigen auch im Augenblick des Sterbens, daß sie ihre Herrschaft nicht leichthin ous der Hand geben.

Die Osterbotschaft gehört als die andere Realität hinzu, wenn vom Sterben und Heimgang die Rede ist. Die Hand Gottes ist zu spüren, tröstlich und verheißungsvoll: heute noch vrirstDu mit mir im Paradies .sein. Die Hand Gottes hängt, durchbohrt und schon fast leblos, am Kreuz. Die Hand Gottes aber blieb nicht im Tod, darum verstummt auch Gottes Sprache nicht. Wer im Vertrauen auf seine Stimme stirbt, stirbt zum Leben.

Leib und Seele trennen sich. Nicht, weil beide verschiedener Qualität sind. Christenglaube macht griechischen und orientalischen Dualismus nicht mit. Seele — das heißt: Du, Menschenkind, bleibst, im Leben und im Tod. Das heißt: Nichts geht verloren.

Oder mit den Worten des Paulus: hoffen wir allein für dieses Leben auf Christus, so sind wir die ärmsten unter allen Menschen. Das heißt schließlich: der verklärte Leib wird am Tag der Auferstehung der Seele beigegeben werden, so wie ihr die sterbliche Hülle genommen wurde.

Der Heimgang des Christen hat längst begonnen. Der Tod trennt uns von geliebten Menschen. Das ist seine Bitterkeit. Auch diese Trennung aber wird in ihrem Schmerz gemildert, wenn die Lebenden dem gleichenHerm gehören, in dessen Hände sie die Seele ihrer Liebsten befehlen. Kein Tag ist zu früh, um zu dieser Heimat und zu diesem Herrn aufzubrechen.

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