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Von einem, der alles darf

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Neftali Ricardo Reyes Basualto, 1904 in Südchile als Sohn eines Lokomotivführers und einer Lehrerin geboren, der später das Pseudonym Pablo Neruda annahm — in Huldigung für einen tschechischen Schriftsteller namens Jan Neruda (1834 bis 1891) — ist für den Literaturfreund längst zu einem mehr oder minder vagen Begriff und in den letzten 15 Jahren speziell für Linksintellektuelle zu einem Säulenheiligen geworden. Kein Wunder also, daß er 1971 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde.

Unbestreitbar seine früh einsetzende und noch immer anhaltende phänomenale Fruchtbarkeit als Lyriker: Er hat mindestens 30 Gedichtbände veröffentlicht, den ersten schon mit 17 Jahren. Von Beruf war er zuerst Professor am Pädagogischen Institut von Santiago, später wurde er Diplomat, aber auch Parteipolitiker: kommunistischer Senator. Unter dem Eindruck des spanischen Bürgerkrieges, den er in Madrid erlebt hatte, war Neruda nämlich Kommunist geworden, und als die Partei 1947 in Chile verboten wurde, mußte er in den Untergrund und ins Exil, das er hauptsächlich in Ostblockländern fand. Diese fünf Jahre wurden zum dunkelsten Weg-teil des weitgereisten und welterfahrenen Autors, den damals sein bereits reifes Alter, seine politische Ausbildung und sein übriges, geradezu enzyklopädisches Wissen nicht davor bewahrten, ein vorbehaltloser Mitläufer des Stalin-Kultes zu werden. Später, lange wieder in der Heimat, sowie in Amt und Würden, hat er dieser Verirrung abgeschworen, sei es, daß ihn die örtliche und zeitliche Distanz allmählich, sei es, daß ihn nur der vielgenannte 20. Parteitag und Chruschtschow eines besseren belehrt hatten. Die fatale Eskapade ist ihm merkwürdigerweise weder im Osten noch im Westen übelgenommen worden, im Gegenteil, sie hat ihn über den Sprachraum seiner Dichtung hinaus populär gemacht.

Wer das Idiom, in dem er schreibt, nicht zu lesen versteht und auf problematische Übersetzungen angewiesen ist, kann ja die Leistung Nerudas nur ahnen. Er scheint so gut wie alles mitgemacht und literarisch ausprobiert zu haben, was es seit mehr als einem halben Jahrhundert an Ismen und anderen poetischen Möglichkeiten gegeben hat. Als Halbwüchsiger hat er den zeitgenössischen „Modernismo" begrüßt, später war er Surrealist, er hat dunkel und vieldeutig geschrieben, dann wieder klar und übereinfach, er schwelgt in Naturgedich'ten, in vaterländischer Begeisterung, er schreibt sozial engagiert, ergriffen vom Schicksal der Unterdrückten aller Zeiten und Zonen (mit Aussparung des Ostblocks), und er schreibt bis Ins immerhin schon höhere Alter hinein lange Serien leidenschaftlicher Liebesgedichte, ein spektakulär vitaler Mensch, „eine rabelaissche Gestalt an Lebensfülle und -begier, einer der sich auskennt, der das Essen liebt, das Trinken, die Liebe, das Gespräch, die Geselligkeit (am liebsten hat er, selbst beim Schreiben, einem Schwärm Freunde um sich), der zu kochen versteht,tausend Spaße treibt, prall voll Leben und Zuneigung ist, voll Leben bis in seine abstrakten Studien, bis in sein Schweigen" — wie Erich Arendt im „Vorwort" für den Neruda-Auswahlband „Viele sind wir" schwärmerisch schreibt.

Dieser Band enthält vielerlei Gedichte aus dem sechsten Lebens Jahrzehnt Pablo Nerudas, genauer gesagt ist es eine Sonderausgabe von Seite 185 bis 430 des zweiten Bandes einer 1967 erschienenen zweibändigen Ausgabe der „Dichtungen" des berühmten Chilenen, Auszüge der Einzelbände „Extratouren", „Seefahrt und Rückkehr" (Oden), „Hundert Liebessonette", „Chiles Steine", „Heldenepos", „Zeremonielle Gesänge", „Vollmachten" und „Memorial I—V", mit dem sicherlich ergreifenden Abschluß: „Ich bin nicht Chef von irgendwas, ich dirigiere nicht /Und so häufe ich an / die Irrtümer meines Gesanges."

Schön, schön. Erstaunlich nur, daß er das alles darf, noch dazu unter den Augen und Ohren einer schier bedingungslos mitgehenden weltanschaulichen Avantgarde, die sich ansonsten hart soziologisch orientiert zeigt und bekanntlich meint, es sei latenter Faschismus, nach Auschwitz noch lyrische Gedichte zu schreiben, und gar Herzensergüsse in Sonettenform! Da kann man nur sagen: Der moderne Mensch mit seinem Widerspruch. Er verteufelt zwar das Heilige, aber seine Säulenheiligen sind ihm heilig, nach wie vor.

VIELE SIND WIR: Von Pablo Neruda. Verlag Hermann Luch-terhand, Neuwied und Berlin 1972. 275 Seiten.

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