Instrument der Rache

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Kein Beitrittshindernis sehen die EU-Gutachten in den BenesÇ-Dekreten. "Abstoßend" ist das Gesetz Nr. 115, das "Straffreistellungsgesetz", aber trotzdem - und dagegen sollte die tschechische Seite etwas tun.

Es kreißte der Berg - so heißt es sprichwörtlich - und gebar eine Maus. Daran muss man denken, wenn man sich die diversen professoralen Gutachten zu den BenesÇ-Dekreten ansieht. Sie alle sollen die Frage klären, ob diese Dekrete ein Hindernis für den Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union darstellen. In der Mehrheit kamen die Gutachter zu dem Schluss: Rechtlich gesehen kein Hindernis. Womit der ganze politische Wirbel um die Dekrete, der noch im Frühjahr 2002 die Beziehungen zwischen Berlin und Prag schwer belastete - von den nach wie vor andauernden Schwierigkeiten zwischen Prag und Wien ganz zu schweigen - , vergessen werden könnte.

Das wäre zwar schön, nur gibt es da noch ein Thema, das einer Klärung bedarf: Es geht um das sogenannte "Straffreistellungsgesetz". Es ist das tschechoslowakische Gesetz Nr. 115 vom Mai 1946: "Über die Rechtmäßigkeit von Handlungen, welche mit dem Kampf um die Wiedergewinnung der Freiheit der Tschechen und Slowaken zusammenhängen." Es wurde bisher meist fälschlich als "Amnestiegesetz" bezeichnet. Denn es hat die an der deutschen Zivilbevölkerung bei der Vertreibung begangenen Verbrechen nicht unter Amnestie gestellt, sondern es hat sie "legalisiert", was bedeutet, es hat sie als "rechtens" erklärt. So konnte man in dem Gesetz eher ein Instrument der Rache als einen Akt des Rechts sehen.

Verbrechen legalisiert

Mit diesem Gesetz hat sich auch die EU-Kommission befasst und zwar in Zusammenarbeit mit Beamten des Prager Außenministeriums. Die Zusammenarbeit war im April dieses Jahres zwischen dem EUErweiterungskommissar Günter Verheugen und dem damaligen tschechischen Regierungschef MilosÇ Zeman vereinbart worden. Sie hat zu Erkenntnissen geführt, die Mitte letzten Monats veröffentlicht wurden. Positiv ist, dass darin von einer europäischen Instanz offiziell festgestellt wird, das Gesetz Nr. 115/1946 sei kein Amnestiegesetz, sondern ein Gesetz, das Verbrechen als legal und damit als nicht strafrechtlich zu verfolgen erklärt hat. Ein Haupterkenntnis in diesem Gutachten der EU-Kommission ist aber durchaus angreifbar. Es lautet: "Das Gesetz war nicht als pauschale Straffreistellung für Gräueltaten an Deutschen oder Ungarn beabsichtigt, auch wenn es in der Vergangenheit fallweise so angewandt worden sein mag."

Wenn das Gesetz nur "fallweise" angewendet worden wäre, dann hätte es in der CSR nach 1945 und nach der Vertreibung der sudetendeutschen Zivilbevölkerung eine Fülle von Strafverfahren geben müssen, denn auch nach den vorsichtigsten Schätzungen sind dabei an die 30.000 Menschen durch Gewaltakte umgekommen. Die Feststellung von der "fallweisen" Anwendung des fragwürdigen Gesetzes wird in dem Gutachten in einer gewissen Hinsicht durch den folgenden Satz modifiziert: "Es (das Gesetz) hindert die tschechische Republik nicht daran, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit noch heute zu verfolgen." Dabei wird auf Art. 10 der Verfassung der tschechischen Republik verwiesen, wonach Völkerrecht nationales Recht bricht und daher die UNO-Konvention von 1968 über die Nichtverjährung von Kriegsverbrechen und von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der tschechischen Republik anzuwenden sei.

Straffreiheit für Gräueltaten

Außerdem wird in dem EUGutachten das kommunistische System nach 1948 beschuldigt, "die straf- und zivilrechtliche Ordnung pervertiert" zu haben, was sich auch negativ auf die ursprünglich beabsichtigte Anwendungsweise des Gesetzes 115/1946 (Handlungen von Widerstandskämpfern für rechtens zu erklären) ausgewirkt habe. Während der kommunistischen Zeit hätten es die Behörden "in unrechtmäßiger Weise unter missbräuchlicher Berufung auf das Gesetz abgelehnt, eine nicht bekannte Zahl von Verfahren strafrechtlich zu verfolgen". Damit hätten sie den für Gräueltaten an Deutschen verantwortlichen Personen faktisch Straffreiheit gewährt.

Das sagt aber noch nichts über Existenz oder Anwendung des ominösen Straffreistellungsgesetzes aus. Und so ist das Kommissionsgutachten in dieser Hinsicht nicht nur schwächer als die deutsch-tschechische Erklärung von 1997 zu diesem Thema, sondern bleibt auch hinter den Feststellungen in anderen Gutachten zurück. In der deutsch-tschechischen Erklärung vom 21. Januar 1997 heißt es nämlich: "Die tschechische Seite bedauert, dass durch die nach dem Kriegsende erfolgte Vertreibung sowie zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt wurde, und dies auch angesichts des kollektiven Charakters der Schuldzuweisung. Sie bedauert insbesondere die Exzesse, die im Widerspruch zu elementaren humanitären Grundsätzen und auch den damals geltenden rechtlichen Normen gestanden haben, und bedauert darüber hinaus, dass es auf Grund des Gesetzes Nr. 115 vom 8. Mai 1946 ermöglicht wurde, diese Exzesse als nicht widerrechtlich anzusehen, und dass infolgedessen diese Taten nicht bestraft wurden."

Auch in ihrer gemeinsamen Schlussfolgerung haben sich die drei Gutachter, die Professoren Ulf Bernitz, Jochen Frowein sowie Christopher Prout eindeutig von dem Gesetz 115 distanziert. Sie haben es ausdrücklich als "unvereinbar mit den Menschenrechten und mit allen fundamentalen rechtlichen Prinzipien" erklärt und die tschechische Republik aufgefordert, dem auch juristisch Rechnung zu tragen.

Vergangenheit "bewältigen"

So haben wir also jetzt folgende Situation, die zu einem Vergleich mit der kreißenden Maus berechtigt: Einerseits können in der Tschechischen Republik auf völkerrechtlicher Basis Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschenrechte verfolgt werden, andererseits steht dem das noch immer gültige Straffreistellungsgesetz entgegen. Somit ist der Komplex der mit der Vertreibung der Sudetendeutschen und der Ungarn zusammenhängenden Rechtsbestimmungen, kurz als BenesÇ-Dekrete bezeichnet, noch immer nicht gänzlich vom Tisch, wie manche Prager Politiker, darunter auch Außenminister Cyril Svoboda nach Vorliegen des EU-Gutachtens meinten.

Es wird jetzt an den Prager Instanzen liegen, ob es nicht auch im Interesse der Stellung der Tschechischen Republik in der europäischen Staatengemeinschaft gut wäre, sich von dem umstrittenen Gesetz zu distanzieren. Es braucht nicht unbedingt aufgehoben zu werden, eine akzeptable Distanzierung könnte auch durch eine entsprechende Erklärung an die Adresse der EU geschehen. Oder, man verkündet einfach eine Amnestie für die seinerzeit begangenen Straftaten. Das würde die tschechische Regierung nichts kosten und ihr Prestige nicht beeinträchtigen. Dazu bedarf es heutzutage auch keineswegs mehr des Druckes von außen. Bereits innenpolitisch werden diesbezügliche Forderungen von jenem Teil der Medien mit Nachdruck vertreten, die der Meinung sind, es sei an der Zeit, dass auch die Tschechen ihre Vergangenheit "bewältigen".

Der Autor war über Jahrzehnte Südosteuropa-Korrespondent. 1912 in Prag geboren, prägte Wolfgang Libal während seiner journalistischen Tätigkeit u. a. den Begriff des "Prager Frühlings".

Benes-Gutachten Im Wortlaut

Das Gutachten der drei Juristen Jochen Frowein (Deutschland), Ulf Bernitz (Schweden) und Christopher Prout (Großbritannien) zu den BenesÇ-Dekreten:

"Wir sind zu den folgenden gemeinsamen Schlussfolgerungen gelangt:

1.Die Enteignungen auf Grundlage der BenesÇ-Dekrete werfen kein Problem nach dem EU-Rechtsbestand auf, da dieses keine rückwirkende Wirkung hat.

2.Die Dekrete über die Staatsbürgerschaft liegen außerhalb der Kompetenz der EU.

3.Obwohl das tschechische System der Restitutionen in man-cher Hinsicht - wie das UNOMenschenrechtskomitee festgestellt hat - diskriminierend ist, wirft es kein Problem nach dem EU-Rechtsbestand auf.

4.Es muss während des Beitrittsprozesses (Tschechiens zur EU, Anm.) klargestellt werden, dass strafrechtliche Verurteilungen auf Grundlage der BenesÇ-Dekrete nach dem Beitritt nicht exekutiert werden können.

5.Ein Widerruf des Gesetzes Nr. 115 aus dem Jahr 1946 (Amnestiegesetz bzw. besser Straffreistellungsgesetz, Anm.), das ,gerechte Vergeltungen' von Strafverfolgung freistellte, scheint im Zusammenhang mit dem Beitritt nicht zwingend erforderlich. Der Grund ist, dass Einzelpersonen mehr als 50 Jahre auf diese Bestimmungen vertraut haben und daher die legitime Erwartung haben, dass sie jetzt nicht für diese Handlungen strafrechtlich verfolgt werden. Da wir jedoch dieses Gesetz für abstoßend in Hinsicht auf die Menschenrechte und alle fundamentalen Gesetzesprinzipien halten, sind wir der Meinung, dass die Tschechische Republik dies formell anerkennen sollte.

6.Unsere Meinung beruht auf dem Verständnis, dass ab dem Zeitpunkt des Beitritts alle EU-Bürger auf dem Territorium der Tschechischen Republik dieselben Rechte haben werden."

APA-Übersetzung aus dem

Englischen.

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