Joachim Kaiser: Der Kaiser der Kritik

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Der einflussreiche Musik- und Literaturkritiker Joachim Kaiser im FURCHE-Gespräch.

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Der einflussreiche Musik- und Literaturkritiker Joachim Kaiser im FURCHE-Gespräch.

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Die Furche: Franz Grillparzer, über den Sie promoviert haben, spottete: "Beschriebene Musik ist wie ein erzähltes Mittagessen." Trifft das die Arbeit des Musikkritikers?

Joachim Kaiser: Grillparzer selber hat sehr oft über Musik geschrieben. Die Arbeit des Musikkritikers gilt als schwerer als die des Schauspielkritikers, denn er muss Dinge verbalisieren, die nicht aus Worten bestehen. Auf einen Roman aus Worten oder ein Theaterstück aus Worten zu antworten, gilt als leichter, als auf ein Mozart-Streichquartett zu antworten. Gott sei Dank empfinde ich das überhaupt nicht so. Ich schreibe genauso gerne über Kammermusik wie über Hamlet. Aber die meisten tun das offensichtlich nicht, und davon lebe ich ganz gut. Darum ist zum Beispiel auch die Literatur über Mozarts Opern unendlich viel reicher und größer als etwa über Mozarts Streichquartette, die doch mindestens genauso schön sind. Aber bei Opern hat man einen Text, kann man über eine Figur reden oder quatschen - habe ich ja auch ein ganzes Buch darüber geschrieben -, doch wenn man über eine Beethoven-Sonate oder eine Bachfuge schreiben muss, haben viele Musikkritiker Schwierigkeiten. Ich finde, man muss so weit kommen, dass man diese großen Musikwerke, diese Sonaten als lebendige Wesen empfindet, die bestimmte Charaktere haben, bestimmte Vorzüge, bestimmte Dinge, die man liebt, und dann kann man darauf antworten. Das macht die Musikkritik für meinen Begriff überhaupt erst sinnvoll, und dann macht sie auch Spaß.

Die Furche: Mit wem sind Sie als Kritiker eigentlich im Bunde: mit dem Werk, mit dem Autor oder mit dem Publikum?

Kaiser: Mit allen. Wenn ich eine hübsche Operette zu besprechen habe, dann bin ich selbstverständlich mit der Hauptdarstellerin im Bund: Die soll gut angezogen sein, hübsch aussehen, schlank sein, keinen allzu dicken Popo haben, soll lustig singen können usw. Wenn ich eine Beckett-Uraufführung bespreche, dann bin ich im Bund mit dem Autor; dann werde ich versuchen, dieses Stück dem Publikum zu erklären. Wenn ich eine Beethoven-Sonate zu besprechen habe, dann bin ich im Bund mit der Sonate oder mit dem Interpreten. Und immer muss ich so schreiben, dass ich das Gefühl habe, das Publikum kann mich verstehen. Das ist für mich der Nachteil von jungen Kritikern, dass die immer ihren Kollegen imponieren wollen. Als ich 25 Jahre alt war, habe ich auch so geschrieben, dass es möglichst dem Habermas und dem Adorno imponiert. Das hat man Gott sei Dank als älterer Kritiker nicht nötig.

Die Furche: Sie sehen ja auch die Kritiker-Position kritisch. Sie haben einmal gesagt: Der Kritiker lebt zu wenig gefährlich, er wird eigentlich nicht bestraft und kann sich mit wenig Wissen relativ lang durchschwindeln, wenn er gut formuliert. Stimmt das?

Kaiser: Leider Gottes habe ich davon nicht viel zurückzunehmen. Freilich, das Publikum merkt es auf die Dauer doch. Natürlich eignen sich auch mittelbegabte Leute, die eigentlich viel zu wenig Ahnung hatten - wenn die nun 20, 30 Jahre in der Redaktion sitzen und jeden zweiten Tag über ein Stück schreiben, dann ist das gar nicht zu verhindern, dass sie sich am Schluss eine gewisse Art von Kenntnissen angeeignet haben. Aber dass man als Kritiker für Fehler, die aus Unaufmerksamkeit oder Unbildung entstehen nicht bestraft wird, dass man den größten Quatsch auf die Freiheit des subjektiven Urteils abschieben kann, ist ein Faktum. Wenn Sie einen Film machen, ein Buch schreiben oder ein Hörspiel machen, investieren sie eine bestimmte Lebenszeit, und wenn das dann ein Misserfolg wird, müssen Sie dafür bezahlen. Aber wenn Sie als Kritiker dummes Zeug machen, müssen Sie nicht dafür bezahlen, sondern sagen: Das ist die Freiheit der Meinung. Und das verdirbt den Charakter.

Die Furche: Wie subjektiv darf, muss Kritik sein? Wo soll der Kritiker "ich" sagen, wo soll er sich auf Kriterien beziehen?

Kaiser: Kriterien gibt es in dem Sinn gar nicht so furchtbar viele. Es mag ein ästhetisches Naturrecht geben, aber es gibt nicht das Schema: eine Sonate muss so sein und ein Schauspiel so. Der Kritiker wird keineswegs objektiv gut, wenn er seine Subjektivität durchstreicht. Wenn man sagt: Das alles möchte ich nicht, was mir subjektiv scheint, und dann bleibt die objektive Wahrheit übrig, dann reagiert man wie ein Naturwissenschaftler. Ob ein Lyriker eifersüchtig oder ob ein Jurist Masochist ist, das ist sozusagen wurscht. Das beeinflusst seine Urteile nicht. Aber der Kritiker muss sogar eine gewisse Leidensfähigkeit haben, er muss imstande sein, sich in das Werk zu versenken. Für mich fängt die Qualität eines Kritikers da an, wo er sich gegen seine Geschmacksurteile durch sein kritisches Temperament und seine Urteilskraft gezwungen sieht zu urteilen. Zum Beispiel: Ich komme aus Ostpreußen, aus Tilsit. Ich bin weiß Gott das Gegenteil von diesem etwas pompösen rhetorischen Katholizismus von Claudel: Ich bin ein eingefleischter Protestant, meine Vorfahren waren etwa 300 Jahre lang protestantische Pfarrer - womit man immer zu kämpfen hat, auch wenn man damit vielleicht gar nicht mehr so viel zu tun hat. Nur: Dann gehe ich in eine Claudel-Aufführung und sehe den "Seidenen Schuh" und sage: Donnerwetter! Ist doch eine großartige Welt, die mir persönlich gar nicht liegt. Oder ich bin ein sentimentalischer Typ. Der Pianist Friedrich Gulda war ja nun alles andere als sentimentalisch, sondern der hatte einen fast genialen rhythmischen Sinn, der konnte sich im Tempo gar nicht vertun: Wenn er eines gewählt hatte, dann blieb er dabei. Das hat mir sehr imponiert, obwohl ich sagen würde: Mir waren der Rubinstein oder der Furtwängler aus verschiedenen Gründen viel lieber. Aber wenn der Gulda den ersten Satz der Waldstein-Sonate oder das erste Präludium vom "Wohltemperierten Klavier" spielte, sagte ich: Donnerwetter! Was für eine Dynamik und was für eine Erkenntniskraft kann in einer so phantastischen Rhythmik liegen! Was nützt es, wenn ein linker Kritiker alle sozialistischen Dramen gut und alle christlichen schlecht findet oder wenn ein konservativ-rechter auf Brecht schimpft und sagt: Gerhard Hauptmann ist mir der liebste. Das ist langweilig, das ist vorhersehbar. Aber wenn jemand wirklich von einer Qualität überrascht werden kann und außerdem noch die Fähigkeit hat, seine Eindrücke zu verbalisieren, dann kann er ein ganz anständiger Kritiker werden.

Die Furche: Sie haben mit "Hundert Meisterwerke", "Das Buch der 1000 Bücher" auch versucht, die Rezeption zu lenken, an einer Kanonbildung mitzuwirken - wie weit geht das heute noch? Ist das eine wichtige Funktion der Kritik?

Kaiser: Ich glaube, der Kanon ist eine Form, Kunstwerke und Bücher ernst zu nehmen. Die Idee des Kanons ist, dass man sagt, bestimmte Dinge, dich doch das Abendland geprägt haben und für unser ganzes Denken wichtig sind - nicht alle, aber bestimmte Texte muss man kennen. Wenn man sagt, es ist eigentlich alles gleichermaßen gut oder schlecht, das ist mir zu neutral. Deshalb finde ich schon, dass es Aufgabe der Schule ist, eine Art Kanon herzustellen.

So war ich zum Beispiel jahrelang ein kritischer Begleiter von Bertolt Brecht. Das war ein großer deutscher Schriftsteller, und man kann jetzt nach der Wiedervereinigung nicht so tun, als hätte es den nie gegeben. Ich glaube auch, dass jeder Mensch, der mitreden will, einen oder zwei große Romane von Dostojewskij oder von Tolstoj wirklich gelesen und verstanden haben muss. Sonst quasselt er nur so mit, aber das geht ja ganz gut. Übrigens in Musik sehr viel schlechter, da macht man so schnell Fehler in der Terminologie. Aber über Literatur können alle Leute quatschen, ohne sie gelesen zu haben. Das ist die große Bildungslüge.

Die Furche: Sie selbst sind eine große Kritiker-Autorität, man hat Sie den Kaiser der Kritiker genannt. Wie geht man mit dieser Macht um?

Kaiser: Man darf es nicht wissen. Ich werde ja immer vorsichtiger, weil ich weiß, was davon abhängen kann. Aber ich sage immer: für mich ist das Papier ganz genau so weiß wie für jeden anderen Kollegen auch. Aber ich habe natürlich ein paar Mal erlebt, was negative Urteile von mir ausrichten können, dass das ganze Karriere kaputt machen kann. Infolgedessen habe ich ein bisschen an Unbefangenheit verloren. Aber da ist man in einer großen Stadt eher besser dran. Wenn ich weiß, es erscheinen neben meiner noch fünf andere Kritiken, dann ist das in gewisser Weise eine Erleichterung. Während jemand, der in Graz oder in Klagenfurt schreibt, in gewisser Weise allmächtig ist.

Die Furche: Außerdem haben wir das Problem, dass wir immer mehr Bücher, Konzerte und Theateraufführungen haben, aber das Feuilleton immer kleiner wird.

Kaiser: Das ist natürlich ein unglaublich finsterer Circulus vitiosus. Es ist ganz klar - das hängt auch mit dem Fernsehen zusammen, das die Leute sehr ablenkt, sowie damit, dass der Musikunterricht in den Schulen eher marginal gemacht wird, dass viele Leute kein Geld und Angst haben, arbeitslos zu werden, wenn sie es nicht schon sind: Es ist eine gewisse Krise des Konzert- und Theaterbetriebes ohne jede Frage da. Das ältere Publikum stirbt aus, und die jüngeren Leute haben viele andere Interessen. Diese Krise hat zur Folge, dass die Zeitungen die Berichterstattung etwas reduzieren. Diese Reduktion hat zur Folge, dass die Musik im Bewusstsein der normalen Öffentlichkeit nicht mehr ganz so wichtig ist. Das hat zur Folge, dass weniger Leute hingehen - und die Zeitungen brauchen noch weniger zu berichten. Das ist tatsächlich eine große Krise.

Die Furche: Können Sie noch eine Aufführung genießen, ohne das Sie quasi "im Dienst" sind und sich automatisch der Kritiker einschaltet?

Kaiser: Meinen Sie, ich höre die falschen Töne nicht, wenn ich zum Spaß hingehe? Im Gegenteil! Ich bin natürlich ein Profi, und wenn ich in ein Konzert gehe, und es ist einmal wirklich gut und schön und man hat einen beschwingten Abend, dann habe ich auch viel mehr davon als die anderen, die das nicht so merken. Aber ich gebe Ihnen gerne zu: Wenn es mir schlecht geht, wenn ich eine Depression habe und mir einen schönen Schubert anhöre, dann merke ich plötzlich doch: Die spielen das zu schnell. Also da ist schon was dran. Das bewusste kritische Zuhören ist bei mir weiß Gott nicht daran gebunden, ob ich darüber schreibe oder nicht.

Die Furche: Und die Freude des Zuhörens, des Lesens, die hat durch so viele Kritiken nicht nachgelassen?

Kaiser: Im Gegenteil! Wenn Sie hinter mir sitzen würden - ich bedauere immer die Leute, die den Kartenplatz hinter mir haben, denn ich bewege mich so viel, ich nehme so lebhaft Anteil. Ich bin ja schon oft beschimpft worden. Und wenn die dann merken, wer ich bin, sind sie sehr erschrocken. Also das ist es nicht. Aber wie sagt Grillparzer: Der anthropologische Heißhunger lässt nach. Aber das hat nichts mit der Kunst zu tun. Sondern dass man älter wird und merkt, man hat etwas weniger Zeit fürs Leben.

Die Furche: Aber Sie können noch überrascht werden. Nicht: alles schon gehört, alles schon gesehen?

Kaiser: Eine Suggestivfrage! Aber ich glaube, ich hoffe schon.

Das Gespräch führte Cornelius Hell.

Joachim Kaiser, Theater-, Literatur- und Musikkritiker, geb. 1928 in Milken/Ostpreußen, gilt als der "Universalgelehrte der deutschen Kulturlandschaft". Er ist leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung und war 1977-96 ordentlicher Professor an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Stuttgart. Zu seinen bekanntesten Publikationen zählen "Erlebte Musik", "Große Pianisten in unserer Zeit", "Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre Interpreten", "Mein Name ist Sarastro", "Leben mit Wagner", "Kaisers Klassik" und "Das Buch der 1000 Bücher". Sein Konzertführer in CD-Form lebt - wie seine seit Jahrzehnten ausverkauften Musikvorträge in München - vom Interpretationsvergleich.

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