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Im Kreuzfeuer der Kritik

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Vor einiger Zeit wurden an dieser Stelle Wesen und Probleme der Musikkritik erörtert, also Aufgaben und Schwierigkeiten dargelegt, deren Wechselspiel so selten noch eine ideale Erfüllung ermöglicht hat. Und es schien an der Zeit, darauf hinzuweisen! Doch es war wohl auch hier so wie bei allen nicht persönlich adressierten Mahnungen, daß sie nur der versteht, der ihrer nicht bedarf. Die anderen fühlen sich nicht angesprochen, und Publikum und Künstler stehen weiterhin im Kreuzfeuer der Kritik. Wie hieß es doch: sie soll dem einen Vermittler, dem anderen Freund und Helfer sein! Sind aber nicht beide nur die Opfer der Kritik? Das Publikum, weil es glauben muß, was ihm ein scheinbar Berufener vorsetzt; der beurteilte Künstler als Wehrlosester aller Angegriffenen. Denn behauptet man zum Beispiel anderswo nur ganz nebenbei, jener Händler verkaufe minderwertige Ware, kann dieser wegen Untergrabung seines Geschäftsrufes klagen. Gibt ein Kritiker seine abfällige Ansicht über die Leistung eines Künstlers ganz selbstherrlich kund und beeinflußt damit die Meinung Tausender, kann der Künstler gar nichts machen. Hier gÄt es nämlich auf der einen Seite nur die unwägbare, meist unwiederholbare Leistung, auf der anderen das subjektive Urteil, also keinen Wahrheitsbeweis und vor allem kein Gesetz, das eine Handhabe böte. Immer wird der Kritiker die Möglichkeit haben, sich reinzuwaschen. Weicht seine „Auffassung“ jedoch um hundert Prozent von der seiner Kollegen ab, dann wird sich gerade der unverbildetste Leser fragen, ob denn beide recht haben können? Hier muß doch etwas faul sein! Er kommt meist auch unschwer dahinter! Will er sich zum Beispiel bei den Kritikern der Tageszeitungen über ein bestimmtes Ereignis informieren und beginnt er links, wo man „Hosianna“ schreit, kann er sicher sein, auch schon das „Kreuziget ihn" zu vernehmen, wenn er rechts angelangt ist. Kein Wunder, wenn er mitleidig lächelt und daran denkt, wie sehr man predigt, Kunst habe mit Politik nichts zu tun. Die meisten Künstler wollen nur ihrer Berufung dienen, so gut sie können, und verschont bleiben vor der Parteien Zank und Streit. Genau so wollen aber auch die meisten Leser nur ein fachlich korrektes Urteil. Doch ein solches wird bei einer von vornherein parteilich bedingten Kritik wohl niemals möglich sein — humanum est! Niemals brauchte die Freiheit des Journalisten eingeschränkt werden. Jeder Zeitung steht es frei, diesen oder jenen Künstler auch in politischer Hinsicht anzugreifen — doch sie dürfte dies nicht innerhalb der Kunstkritik machen. Dann könnte sich nämlich der Angegriffene — was doch audi nur recht, billig und demokratisch wäre — rechtfertigen und wehren.

Doch wie steht er in Wirklichkeit da? Er arbeitete Wochen, ja Monate an einer Rolle, er arbeitete oft jahrelang an sich selber, und dann kommt der Tag der Premiere, oder des Auftretens, das über ein mögliches Engagement entscheidet. Er darf mit seiner Leistung zufrieden sein, das sagt ihm sein eigenes Gefühl, das sagt ihm auch das Publikum. Aufgeregt durchstöbert er am nächsten Tag die Zeitungen. Tatsächlich, manches Lob — dodi siehe: auch furchtbarer Tadel ist zu finden. Er ist entsetzt und sucht vergeblich nach dem Grund. Wenn jeder Kritiker überlegen würde, welche Bände all die Fehlurteile füllen würden, die im Laufe der Jahrhunderte seine Vorgänger gefällt haben — würde er nicht schon aus diesem Grunde vorsichtiger werden, wenn er klug und anständig ist? Leider mangeln einem Kritiker gerade diese Kardinaltugenden nur gar zu oft! Er überlegt nicht, daß er mit ein paar Federstrichen, in seiner Sucht, mit ein paar Witzen zu prunken, unendlich viel Schmerz, Enttäuschung und Groll erregt, ja oft über die Lebensexistenz eines Künstlers mitentscheidet. Namentlich die Jugend ist voreilig mit einem harten Urteil, nicht nur weil die fachliche Erfahrung fehlt, sondern audi die menschliche Reife. Vermag sie überhaupt die verinnerlichte Geistigkeit eines alternden Künstlers zu verstehen, der allerdings nicht mehr mit äußeren Effekten aufwarten kann? Übt der Kritiker immer auch ein wenig des taktvollen Dankes, den hier die auch nicht mehr so glänzende Leistung verdient? Oder hat er audi nur eine leise Vorstellung, welch' immense Schwierigkeiten andererseits ein junger Künstler zu überwinden hat? Ermißt er überhaupt, welch gewaltige Arbeitsleistung an sich es ist, etwa ein Riesenwerk wie die Matthäus-Passion auswendig zu dirigieren, und er — der Schreiber von ein paar Druckzeilen — nennt dies leichthin nur „Pose"! Bedenkt er auch, welche physische Kraftleistung jede Darstellung einer größeren Bühnenrolle, jedes Dirigieren eines umfangreicheren Werkes, jedes gespielte Klavier- oder Violinkonzert darstellt? Zieht er die heutige Ernährungslage in Rechnung und nimmt er zur Kenntnis, daß ein bekannter Dirigent erzählte, er hätte noch nach jedem „Tristan“ zwei Kilo an Gewicht verloren und nur mühevoll wieder aufgeholt — sitzt er dann weiterhin gelangweilt auf seinem Freisitz, ärgert sich daheim über sein schlechtes Nachtmahl und schreibt dann voll Mißmut seine abfällige Kritik?

Es gibt immer nodi Fälle genug, wo ein Kritiker nach bestem Wissen und Gewissen urteilte und wo er trotzdem Wesentlichstes nicht bedachte: Künstler sind keine Maschinen, die zu einem bestimmten Grad der Vollkommenheit entwickelt wurden und diesen auf Begehr erreichen, sondern Menschen, die dem Leben ausgesetzt sind, weit mehr noch als andere, und deren feinste Seelenschwingungen sich auch nach außen reproduziere und damit den Angriffen weit weniger zartfühlender Kritiker darbieten. Ob sie etwa einem sehr verdienten Künstler, der 1945 ein ausgebombtes und geplündertes Heim vorfand und deswegen eine „Saison" lang zu Arbeitsamt und Polizei laufen mußte, immer seelische Kraft für seine unermüdliche Tätigkeit abends auf der Bühne spendeten?

Das Publikum wünscht eine auf fundamentalem Wissen aufgebaute Rezension, der Künstler darf aber noch Ehrlichkeit und taktvolle Art beanspruchen, in der auch Negatives gesagt wird. Denn auch dafür wird er dankbar sein, wenn er klug ist. Und beide würden als Ideal eines solchen Vermittlers, Helfers und Freundes jenen reifen Lebenskenner sehen, voll von gütiger ond vornehmer Weisheit, im Sachlichen wohl ein unerschrockener Kämpfer, aber großherzig und voll Humor, lieber bereit, zu verstehen als zu schulmeistern, zu verteidigen als anzuklagen; dem man sich freudig anvertraute, weil man von ihm nur lernen kann und weil man bei jedem seiner Worte das Gefühl hat, er ist ehrfürchtig genug, das

Höchste und Unergründlichste im Leben, die Kunst, nur ahnend fühlen, tastend in Wortgleichnissen fassen zu können; der aber auch von der Arbeit, der Not, von den Träumen und Stürmen der vielen Diener dieser Kunst weiß. Ist dieses Ideal nicht so schön, so nachahmenswert, gerade weil es sich durch kein Gesetz erzwingen läßt?

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