Die verlorene Unschuld

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Österreichs Kirche droht, ihre Glaubwürdigkeit nachhaltig zu verlieren.

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Österreichs Kirche droht, ihre Glaubwürdigkeit nachhaltig zu verlieren.

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Bei der Silvesterpredigt 1997 stellte Münchens Kardinal Friedrich Wetter einen Vergleich an: Die Ermordung der siebenjährigen Natalie Astner hatte im letzten Jahr viele bewegt. Wetter meinte in seiner Predigt, mit Recht sei das ganze Land über diesen Sexualmord empört. Man müsse sich aber fragen, wo das Entsetzen angesichts der Tatsache bleibe, daß "Jahr um Jahr Tausende und Abertausende kleiner Natalies bereits im Schoß der Mutter getötet werden".

Angefangen von der Familie des Mordopfers über zahlreiche Medien bis hin zur Politik - sogar der CDU-Politiker Heiner Geißler widersprach heftig - war Empörung angesagt, der sich Wetter und seine Berater staunend und hilflos gegenübersahen: Frauen, die in schwerer Notlage abtreiben, mit Lustmördern zu vergleichen, sei unerhört - lautete der Tenor dieser Reaktionen.

Abgesehen davon, daß die Kontroverse um den Kardinal zur in Deutschland neu aufgeflammten Abtreibungsdebatte gehört, zeigten sich kirchliche Verhaltensmuster, die auch dem gelernten Katholiken in Österreich vertraut sind. Bischöfliche Sprecher riefen "Verleumdung" und "Unterstellung", der Kardinal habe vor allem das fehlende Wertebewußtsein in der Gesellschaft kritisieren wollen. Die erregte öffentliche Diskussion führte jedenfalls zu einem Treffen Wetters mit der Familie Natalies, um die "Mißverständnisse" auszuräumen.

Das bayerische "Unwetter" steht mit der Causa prima der Kirche Österreichs nicht unmittelbar in Zusammenhang. Aber es gibt durchaus Vergleichbares: öffentliche Hysterie, Medien, es wird gemauert und Schadensbegrenzung versucht, dabei ist Sexualität - in unterschiedlicher Weise - mit im Spiel.

Kardinal Wetter hat es aber vergleichsweise leicht, denn er steht in einer politischen Auseinandersetzung, er mag dabei die kirchliche Position mit einem unzulässigen Vergleich untermauert haben: Als Skandal wurden seine Worte empfunden. Das kommt wieder ins Lot - so oder so. Doch auch hier wird deutlich, wie schwer es für die Kirche ist, in der Öffentlichkeit verständlich zu agieren.

Viel schwerer wiegt die Verstrickung, in die der emeritierte Wiener Erzbischof geraten ist: ein kranker, alter Kirchenfürst, der zu lange geschwiegen hat, als daß er noch öffentlich reden kann. Die Anschuldigungen gegen Kardinal Hans Hermann Groer werden - trotz etwaiger Untersuchungen - kaum mehr so zu klären sein, daß die Beteiligten und die Kirche unbeschädigt bleiben. Tragik der Opfer? Tragik eines Duldenden? Tragik der Kirche?

Tragik ja, eine persönliche - für den Beschuldigten, aber auch eine institutionelle: denn der Schaden für die Kirche ist unabsehbar. Wunden - durch ratlose Bischöfe ebenso wie 1995 durch den Sturm der Entrüstung, der ins Kirchenvolks-Begehren mündete, aufgebrochen - haben zu weitgehender Polarisierung der Kirche Österreichs geführt, quer durch Generationen und Schichten: Die Kirchenspitze ist uneins, ebenso die Basis, die Bandbreite zwischen "Reformern" und "Fundamentalisten" scheint so groß, daß Konsens kaum in Aussicht steht.

Der Ist-Zustand wurde letzten Sonntag in der TV-Diskussion "Zur Sache" erneut sichtbar. Die Bischöfe Krenn und Laun, eine Vertreterin der Kirchenvolks-Begehrer, die Lebensgefährtin eines suspendierten Priesters, ein zum Psychotherapeuten mutierter Expriester, der streitbare katholische Publizist: die Runde war symptomatisch für die nicht vorhandene Gesprächsbasis, die Polarisierung und die fehlenden Visionen in einer erstarrten Kirche.

All dies ist nicht die Schuld des hinter Klostermauern verborgenen greisen Kardinals. Aber sehr wohl mittelbare Folge seines Schweigens, noch mehr aber des Schweigens der Kirche zu vielem, was in ihren Reihen der Aufklärung bedarf. Wie soll unter diesen Vorzeichen der von den Bischöfen propagierte "Dialog für Österreich" überhaupt geführt werden? (Die durch profil bekanntgewordenen Aufforderungen Kardinal Ratzingers an Bischof Weber, die Kirchenvolks-Begehrer innerhalb der offiziellen Kirche auszugrenzen, ernüchtern zusätzlich.)

Kein Zweifel, Österreichs Kirche ist an jenem Punkt angelangt, wo sie ihre Glaubwürdigkeit nachhaltig zu verlieren droht. Denn durch die Geschwätzigkeit des Beharrens und Beschwichtigens (immer wieder auf bischöflicher Seite) oder des ständigen Klagens (etwa über "kalte Machtausübung", die das Kirchenvolks-Begehren der Kirche vorwirft) tut sich keine Perspektive auf. Und auch der Blick über den Zaun zeigt - siehe das obige Münchner Beispiel -, daß das Ansehen der Kirche durch zweifelhafte Rede sinkt.

Gerade zwei Wochen ist es her, daß die Teilnehmer des Taize-Treffens Wien und seine Kirche bevölkerten: 80.000 beteten über die Stadt verstreut und schöpften aus gemeinsamem Schweigen.

Ist das, was daraus folgen könnte, bloß ein frommer Wunsch: klare Rede, Wahrhaftigkeit und Trost? Und gegen die Geschwätzigkeit aller Beteiligten: auch das Schweigen?

Dieses Schweigen jedoch wäre ein anderes als das des Kardinals.

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