Olympische Spiele im Mormonen-Land

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Mormonen gelten manchen als "schrullige" Religionsgemeinschaft. Solche Qualifizierung hält näherem Hinsehen nicht stand.

Am 7. August 2001 lief der norwegische Kapitän Marcus Seidl mit seinem riesigen Dreimaster, der "Staatsrad Lehmkuhl" aus dem dänischen Esbjerg aus und nahm Kurs auf Kopenhagen. Die weiteren Ziele: Göteborg, Oslo, Hamburg, dann ins britische Hull und über Portsmouth, Las Palmas und Bermuda nach New York, wo man nach 59 Tagen eintreffen wollte. Wann immer es das Wetter zuließ, ließ Kapitän Seidl Segel setzen: Alle Mitreisenden mussten Hand anlegen, um das stolze Schiff zu manövrieren. Die Mutigen unter ihnen erstiegen unter Anleitung der Mannschaft sogar die Masten, um die Segel zu hissen oder zu reffen.

Die "Staatsrad Lehmkuhl" war eines von acht Segelschiffen, die an der Reise teilnahmen. An Bord waren, abgesehen von Mannschaft und Presseleuten, ausschließlich "Heilige der Letzten Tage" oder "Mormonen", wie sie sich vor allem der Kürze wegen nach dem für sie zentralen Buch auch nennen. Sie wollten nachvollziehen, was ihre Vorfahren erlebt hatten, als diese vor etwa 150 Jahren die gefährliche Überfahrt antraten. Aber der "Seatreck 2001" sollte auch auf die Olympischen Winterspiele hinweisen, die am 8. Februar in Salt Lake City eröffnet werden. Die religiöse Lesart des Ereignisses: So wie damals viele aufbrachen, um im Staate Utah ihr "Zion" zu finden, kommen mit Olympia erneut Menschen aus aller Welt in die Mormonenhauptstadt: "Nie seit den Spielen der Antike, die in Zeus' Angesicht stattfanden, fanden die Olympics an einem Ort statt, der so dominiert von einer einzigen Religion ist", schreibt Kenneth Woodward in Newsweek.

Joe Smiths Visionen

Die "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage" wurde nach Visionen des Bauernsohns Joe Smith 1830 gegründet. Da sie mit dem Anspruch auftrat, unter den vielen Konfessionen die einzig wahre Kirche zu sein, war sie bald schweren Anfeindungen ausgesetzt. In Ohio und Missouri entstanden erste Mormonengemeinden, die sich aber im feindlichen Klima nicht halten konnten. Nauvoo am Mississippi wurde die erste Modellstadt - mit Joe Smith als Bürgermeister. Aber auch dort war kein Friede möglich. Heftige Vorwürfe gegen die Vertreter der neuen Religion von Seiten ihrer Gegner ließen auch politisch Verantwortliche nicht unbeeindruckt. Smith wurde verhaftet und im Gefängnis ermordet.

Sein Nachfolger, Brigham Young, entschied sich daher, mit seiner Gemeinde gen Westen zu ziehen. Nach einem entbehrungsreichen Marsch gelangte die erste Gruppe im Juli 1847 ins Tal des Großen Salzsees. Sofort gingen sie daran, den Wüstenboden zu bewässern. Salt Lake City war gegründet, die Verehrung der "Pioniere" ist bis heute integraler Bestandteil mormonischen Selbstverständnisses.

Die junge Kirche war von Anfang an missionarisch. Ihre Lehre fiel auch in Europa auf fruchtbaren Boden. Briten und Skandinavier waren die ersten, die sich auf Geheiß der Missionare einschifften, um nach Salt Lake City zu kommen und am Aufbau "Zions", wie sie ihr Projekt gut biblisch nannten, mitzuwirken. Den Staat, den die Pioniere in großem Gemeinschaftsgeist errichteten, bezeichneten sie zunächst mit dem biblischen Begriff für "Honigbiene" - "Deseret" -, ein Name, der in verschiedenen Zusammenhängen bis heute begegnet.

Einem "beehive", einem Bienenstock sollte der neue Kirchenstaat gleichen. Als er Mitglied der Vereinigten Staaten von Amerika wurde, musste man den Namen "Utah" akzeptieren. Außerdem wurde die Polygamie, seit Joe Smith gängige Praxis, abgeschafft und ist seither verpönt. Unbelehrbare, die sich auch heute noch über dieses Verbot hinwegsetzen, werden als Kirchenmitglieder nicht geduldet.

Heute sind etwa 70 Prozent der Einwohner Utahs Mormonen. Ihr Einfluss aufs öffentliche Leben ist nach wie vor groß, das bestätigen Kritiker wie Anhänger. Die Kirche ist nicht arm: Die weltweit etwa 11 Millionen Mitglieder stellen ihr 10 Prozent ihres Gehaltes zur Verfügung.

Die "Kirche Jesu Christi" besitzt Ländereien, Banken, Betriebe und Immobilien. An ihren Interessen vorbei ist in Utah kaum Politik zu machen. Das freut nicht alle. Ein Beispiel: Der schmucklose Parkplatz, auf dem die olympischen Medaillen überreicht werden sollen, gehört der Kirche. Böse Zungen behaupten, sie habe ihn nur deshalb zur Verfügung gestellt, weil so bei jeder Siegerehrung der Tempel zu sehen sei. "Diese Kritik kennen wir," seufzt Michael Purdy von der PR-Abteilung der Kirche: "Was hätten sie uns vorgeworfen, wenn wir den Platz nicht hergegeben hätten?"

Mo(rmon-O)lympics

Die Kirche ist auf die Olympischen Spiele gut vorbereitet. Der weltbekannte "Tabernacle Choir" wird bei der Eröffnung seinen großen Auftritt haben. Im riesigen neuen Konferenzzentrum wird jeden Abend ein Musical aufgeführt. Sollten Besucher oder Sportler Zeit für einen Spaziergang auf dem Tempelplatz finden, so wird es nicht an Missionaren mangeln, die Informationen über die Kirche loswerden wollen. Ein Pressezentrum der Kirche bietet Stories für eine Berichterstattung am Rande der Spiele. "Das werden keine Olympics, sondern Mo-lympics", ließ ein Kritiker die Presse wissen. Der Präsident der Mormonenkirche, Gordon B. Hinckley, weist diesen Verdacht von sich. "Wir werden gute Gastgeber sein, aber wir werden die Spiele nicht für Bekehrungsversuche missbrauchen", versichert er.

Die hohen moralischen Ansprüche verlocken manche Berichterstatter dazu, die "Latter day saints" als schrullige Außenseiter darzustellen. Bei näherem Hinsehen hält sich diese Seltsamkeit in Grenzen: Mormonen halten in der Regel einen Tag pro Woche für einen Familienabend frei, aber starke Familienbezogenheit ist auch in anderen Kirchen anzutreffen. Sie sprechen sich für voreheliche Enthaltsamkeit und gegen Homosexualität aus. Damit stehen sie nicht allein. Sie vertreten ein konservatives Weltbild. Aber auch das macht sie - zumal im amerikanischen Westen - nicht einzigartig. Die Kirchenleitung wird ausschließlich von Männern wahrgenommen - nicht anders als etwa bei Katholiken.

Bleibt das mit dem Alkohol: Mormonen trinken keinen. Sie verweigern Kaffee und Schwarztee. Die oft gestellte Frage lautet daher: Wird man in der "sober city", der nüchternen Stadt, mit Mineralwasser anstoßen müssen?

Der ehemalige ÖSV-Damentrainer Herwig Demschar ist für die Organisation der Alpinbewerbe zuständig und lebt seit einigen Jahren in Utah. Auf die Alkohol-Frage antwortet er schon leicht gereizt: "Wer zu den Spielen kommt und vor allem befürchtet, zu wenig Alkohol zu bekommen, sollte lieber mit seinem Arzt sprechen; vielleicht hat er ein Alkoholproblem." Präsident Hinckley zeigt sich einfühlsam: "Wir trinken nicht, aber wer Alkohol will, soll ihn bekommen." Auch schon bisher konnte jeder, der wollte, in Salt Lake City einen Drink bekommen. Für die Zeit der Spiele sollen die dennoch strengen Alkoholgesetze aber gelockert werden. Manche Nicht-Mormonen hoffen, aus der vorübergehenden Lizenz zum Promille könnte eine dauerhafte werden.

"We are not weird"

"We are not weird. - Wir sind nicht sonderbar." Das ist die vielleicht wichtigste Botschaft, die Mormonenpräsident Hinckley für die Welt hat. Um das zu unterstreichen, betont die Kirche mehr als früher, was sie mit dem ökumenischen Christentum verbindet. Joe Smith tritt hinter Jesus von Nazaret zurück. Früher zeigte man Salt-Lake-Besuchern einen aufwändig gedrehten Film über die Gründung von Salt Lake City. An dieser Stelle ist jetzt ein Film über Jesus Christus zu sehen. Das Buch Mormon, das Joe Smith auf wundersame Weise in Gestalt von Metallplatten auffand und übersetzte, wird neben der Bibel als "ein weiterer Zeuge für Jesus Christus" verstanden. Dieser sei nach seiner Auferstehung auch einem messiasgläubigen Volk erschienen, das aus Israel nach Nordamerika emigriert war.

In theologischer Hinsicht ist freilich eine Verständigung mit den traditionellen christlichen Kirchen gänzlich außer Reichweite. Zu unterschiedlich sind die Auffassungen. So wird Gott als Wesen in Fleisch und Blut gedacht, das selbst eine irdische Existenz hatte. Ziel des Menschen ist es, selbst Gott zu werden. Für Nicht-Mormonen unzugängliche Tempelzeremonien werden auch stellvertretend für Verstorbene vollzogen, Familien werden über den Tod hinaus für alle Ewigkeit "gesiegelt". Die Liste der Unvereinbarkeiten ließe sich fortsetzen. Erst kürzlich hat die katholische Kirche bekräftigt, dass die Taufe der Mormonen aus ihrer Sicht ungültig sei. Präsident Hinckley trägt das mit Gelassenheit: "No problem", sagt er. Aus Sicht der einen wahren und wieder hergestellten Kirche Jesu Christi sind die anderen Kirchen ohnehin defiziente Formen.

Kooperations-Chance

Dennoch enthält die Mormonenkirche Elemente, die für das ökumenische Christentum unbeschadet der theologischen Differenzen interessant sein könnte. So verfügt die "Kirche Jesu Christi" über ein beeindruckendes Sozialhilfesystem. Sie leistet schnell und effizient internationale Katastrophenhilfe. Junge Kirchenmitglieder absolvieren einen zweijährigen Missionseinsatz - und bringen Fremdsprachenkenntnisse sowie Welterfahrung mit nach Hause. In der hohen Wertschätzung der Mormonen für Ahnen und Familiengeschichte liegen spirituelle Momente, die auch für andere Traditionen befruchtend sein könnten.

Im Land der Mormonen gibt es viele Religionen und Kirchen: Die "Kirche Jesu Christi" - in Österreich übrigens eine anerkannte Religionsgemeinschaft - ist in Utah stark, aber nicht allein. Für Mitt Romney, Mormone und Cheforganisator der Spiele, bedeutet das aber auch, sich an der Vielfalt zu freuen. "Salt Lake City", sagt er, "wurde auf der Suche nach der Freiheit der Religion gegründet. Dieses Erbe verpflichtet."

Die "Mo-lympics" bieten - abseits des Sports - eine Chance: Wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass nicht jeder, der seine Glaubensüberzeugung ernst nimmt, ein lebensfeindlicher Sonderling sein muss, wäre schon einiges gewonnen. Kooperationen sind auch über Glaubensdifferenzen hinweg möglich.

Auf der "Staatsrad Lehmkuhl" jedenfalls arbeitete die vorwiegend protestantische Besatzung mit den mormonischen Fahrgästen bestens zusammen. Für ein Wendemanöver auf hoher See ist das jeweilige Gottesbild auch zweitrangig. Die Schiffe wurden in den Häfen mit großen Feierlichkeiten begrüßt. Nur das Empfangsfest in New York wurde abgesagt. Der Terror des 11. September hatte es unmöglich gemacht. Sollte im "Zion" der Pioniere der größte Sicherheitsaufwand aller Zeiten erfolgreich sein: Es könnten sehr gute Spiele werden.

Der Autor ist Religionsjournalist beim ORF-Fernsehen.

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