"Politikerleben ist ständige Gratwanderung"

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Ex-Vizekanzler Josef Riegler über das Kräfte raubende Managen von Gegensätzen.

Die Furche: Leben Spitzenpolitiker nicht alle über ihre Kräfte?

Josef Riegler: Das Leben eines Spitzenpolitikers ist eine ständige Gratwanderung des restlosen Ausschöpfens des physischen, psychischen und geistigen Potenzials. Die Art, wie Politik gemacht wird und wie die Akteure sich in Zugzwang bringen, begünstigen die Selbstausbeutung. Der Bundeskanzler hat es beim Fest zum 70. Geburtstag von Alois Mock - man sah einen Video-Film über seine Lebensstationen - unter dem Eindruck dieser Bilder spontan gesagt: "Wir alle sind gezeichnet von dem, was wir tun."

Die Furche: Wiegt die physische oder die psychische Belastung schwerer?

Riegler: Ich habe die psychische Belastung als das größere Problem empfunden. Das hängt auch vom Zugang ab, den man zur politischen Gestaltung hat. Ich habe mich sehr mit den Inhalten identifiziert. In der Politik managt man ständig Interessengegensätze. Das ist sehr kräfteraubend. Und nur ein kleiner Prozentsatz der Anstrengung kann auch tatsächlich auf den Boden gebracht werden. Viel Kraft geht in den Auseinandersetzungen drauf: Auseinandersetzung Regierung-Opposition, Regierung-Parlament, Auseinandersetzung zwischen den Bereichen innerhalb der Regierung, das Ausgesetztsein gegenüber den Medien... Man agiert immer bei offenem Vorhang. Dann der Druck, dauernd auf die Akzeptanz durch die Wähler zu schauen. Letzteres führt dazu, dass die Mandatare irrsinnig viel Zeit damit verbringen, bei allem und jedem in der Region aufzuscheinen.

Die Furche: Müssen auch Minister zu so vielen Veranstaltungen?

Riegler: Der Job des Ministers ist durch eine enorme Bürde von Sacharbeit gekennzeichnet. Jeder Minister ist mit vielen Detailproblemen befasst. Er steht ja für das, was geschieht, gerade. Man muss viel lesen, weil man ja jeden Tag Stöße von Akten unterschreibt. Dazu kommt, dass der Mi-nister auch ein politischer Mandatar ist, er wird zu vielen Veranstaltungen angefordert.

Die Furche: Der Landwirtschaftsminister wohl besonders oft...

Riegler: Ja - bei Messen, Fachveranstaltungen, Bauernparlamenten... Vieles ist sinnvoll. Es gibt die Chance, direkt ins Gespräch zu kommen.

Die Furche: Wie lang wird da ein Arbeitstag im Durchschnitt?

Riegler: Ich habe um acht Uhr begonnen und irgendwann einmal zwischen 22 und 24 Uhr aufgehört. Ich wäre innerhalb von zwei Monaten, nachdem ich Minister geworden war, in dem Rhythmus sieben Tage in der Woche verplant gewesen. Dann habe ich die Notbremse gezogen und mir die Sonntagnachmittage und -abende freigehalten. Ich musste darauf schauen, dass sowohl meine Familie wie auch ich selbst einen Rest von Regenerationsmöglichkeit haben.

Die Furche: Wie hat die Familie dieses Engagement verkraftet?

Riegler: Durch viel Geduld. Mir hat einmal der frühere Vorarlberger Landeshauptmann Purtscher, der vorher Generaldirektor von Suchard gewesen war, gesagt: "Ich dachte, dass ich sehr viel arbeite. Aber als Landeshauptmann habe ich gemerkt, dass es da eine Steigerung gibt."

Die Furche: Gab es Urlaube?

Riegler: Ich habe strikt zwei Wochen im Jahr durchgezogen. Das war für die Partnerschaft, für die Familie einfach sehr wichtig.

Die Furche: Ist es belastend, dass einen viele auf der Straße erkennen?

Riegler: Problematisch ist eher, dass sich so viel von den Entscheidungen in der Öffentlichkeit abspielt. Die Politiker sind da schon auch selbst schuld. Sie setzen sich gegenseitig immer wieder stark unter Zugzwang. Das gilt auch für die Repräsentation, das Bei-allem-und-jedem-sein-Müssen. In Niederösterreich gab es eine freiwillige Vereinbarung aller Parteien auf ein politikfreies Wochenende im Monat. Das hat nur kurz funktioniert. Dabei wäre es so wichtig, sich Zeit zum Nachdenken, zum Aufmunitionieren zu nehmen. Der Mensch muss sich ja auch geistig, psychisch und physisch wieder aufbauen. Mein persönlicher Glücksfall war, dass ich mit 55 aus dem politischen Geschehen ausgeschieden bin.

Die Furche: Hatten Sie jemals gesundheitliche Probleme?

Riegler: Nein. Man braucht eine sehr robuste Konstitution. Man müsste die Kondition auch etwas pflegen. Für mich ist Bundeskanzler Schüssel ein wirkliches Phänomen. Er hat eine fast unglaubliche Konstitution. Und er pflegt auch die Vielfalt seiner Neigungen. Er ist sportlich, er ist musisch. Er hat auch eine glaubensmäßige Komponente. Das ist sehr wertvoll.

Die Furche: Wird das Politikerleben mit der Zeit immer mehr Kräfte verschleißend?

Riegler: Es wird eher schlimmer. Brüssel war ein Quantensprung in der Belastung. Die Ministerräte in Brüssel kosten viel Zeit, inhaltliche Vorbereitung und geistige Präsenz. Dazu kommt: Je stärker der mediale Wettbewerb ist und je größer das Tempo der Informationsgesellschaft, umso größer der Zeitdruck für die Politiker.

Das Gespräch führte Christof Gaspari.

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