TU Wien - © Foto:Hans Ringhofer / picturedesk.com

Uniko-Chefin Sabine Seidler: "Wir laufen in ein Riesenproblem“

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Im Oktober startet an den Universitäten das Wintersemester im „Hybridbetrieb“. uniko-Präsidentin Sabine Seidler über die Hochschulen in Corona-Zeiten, die Kritik an der geplanten neuen TU sowie die gesellschaftlichen Umwälzungen durch die Digitalisierung.

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Im Oktober startet an den Universitäten das Wintersemester im „Hybridbetrieb“. uniko-Präsidentin Sabine Seidler über die Hochschulen in Corona-Zeiten, die Kritik an der geplanten neuen TU sowie die gesellschaftlichen Umwälzungen durch die Digitalisierung.

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Rund 70.000 Prüfungen sind an den österreichischen Unis zwischen Ende März und Ende Juni rein digital durchgeführt worden. Im nun anlaufenden Wintersemester steht „Hybrid-Learning“ auf dem Programm, bei dem die Lehrveranstaltungen teils vor Ort, teils online oder parallel in beiden Formaten stattfinden werden. Doch das Studieren unter den Auflagen der Corona-Regelungen ist derzeit nicht die einzige Herausforderung in der heimischen Universitätslandschaft, wie Sabine Seidler im Gespräch mit der FURCHE erläutert. Die Werkstoff-Forscherin ist ordentliche Professorin sowie Rektorin an der Technischen Universität Wien und für den Zeitraum von 2020 bis 2021 Präsidentin der Österreichischen Universitätenkonferenz (uniko).

DIE FURCHE: Die uniko-Projekte „UNInteressant?“ und der Wissenschaftsblog „Schrödingers Katze“ sollen verdeutlichen, wie die Forschung an Universitäten unseren Alltag verbessert. Mit der Coronakrise zeigt sich die Relevanz der Wissenschaft nun so eindringlich wie nie zuvor ...
Seidler: Mit Corona ist sichtbar geworden, wie wichtig insbesondere die Grundlagenforschung ist: schon allein durch die Tatsache, dass es kaum einen Politiker gab, der nicht mit einem Wissenschaftler an der Seite aufgetreten ist, um bestimmte Maßnahmen zu erläutern. Wir haben auch gesehen, wie wichtig Simulation und Modellbildung sind, um den Schutz des Gesundheits­systems zu gewährleisten. Die Arbeit der Virologen und Immunologen, die diagnostische Tests oder Impfstoffe entwickeln, ist derzeit stark in der Öffentlichkeit präsent.

DIE FURCHE: Sie haben aber kürzlich darauf hingewiesen, dass trotz Corona das Kernthema für die Universitäten nicht aus dem Blickfeld geraten dürfe: die Finanzierung. Für die nächste Budgetperiode sieht die Universitätenkonferenz einen Mehrbedarf von 2,1 Milliarden Euro. Was sagt die Regierung dazu?
Seidler: Die Forderung steht im Raum. Es wurde nicht widersprochen, also ist meine Schlussfolgerung: Der Mehrbedarf wird anerkannt. In welcher Höhe, ist freilich noch offen. Ich hege die Hoffnung, dass bei den politischen Entscheidungsträgern nun angekommen ist, wie wichtig die Universitäten für die Forschung in Österreich sind – bislang hatten wir stets damit zu kämpfen, dass die Universitäten primär als Bildungs- und kaum als Forschungseinrichtungen wahrgenommen werden.

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DIE FURCHE: Woraus ergibt sich der finanzielle Mehrbedarf?
Seidler: Die Universitäten befinden sich derzeit in einer Wachstumsphase. Mit der Einführung der neuen Uni-Finanzierung gibt es über insgesamt neun Jahre den Plan, das System schrittweise so auszubauen, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit gegeben ist, zum Beispiel hinsichtlich der Betreuungsverhältnisse. Dieser Prozess wurde 2019 in die Wege geleitet und sollte für die kommenden zwei Perioden der Leistungsvereinbarung fortgesetzt werden. Allein der Inflationsausgleich für 2022 bis 2024 ist mit circa 700 Millionen Euro veranschlagt; das Wachstumsbudget mit circa 500 Millionen. Zwischen 2019 und 2021 werden zum Beispiel 370 zusätzliche Professoren angestellt – und die haben natürlich auch einen Infrastrukturbedarf.

DIE FURCHE: Die Betreuungsrelationen an den heimischen Universitäten sind also im internationalen Vergleich ausbaufähig?
Seidler: Gemäß internationalen Standards wäre das Ziel, dass durchschnittlich 40 Studierende auf eine Lehrperson kommen. Derzeit sind wir noch deutlich davon entfernt, aber durch die gesetzten Maßnahmen nähern wir uns dem Ziel.

Sabine Seidler - © Raimund Appel

Die Werkstoff-Forscherin Sabine Seidler ist seit 1996 ordentliche Professorin an der Technischen Universität Wien und für den Zeitraum von 2020 bis 2021 Präsidentin der Österreichischen Universitätenkonferenz (uniko).

Die Werkstoff-Forscherin Sabine Seidler ist seit 1996 ordentliche Professorin an der Technischen Universität Wien und für den Zeitraum von 2020 bis 2021 Präsidentin der Österreichischen Universitätenkonferenz (uniko).

Dem Standort Oberösterreich wäre besser gedient, die Johannes Kepler-Universität auszubauen. Eine neue Uni halte ich für Geldverschwendung. (Sabine Seidler)

DIE FURCHE: Coronabedingt gab es im letzten Semester eine abrupte Umstellung auf Fernunterricht. Im Wintersemester steht nun das „Hybrid-Learning“, also eine Kombination aus Präsenz- und Fernunterricht, auf dem Programm. Welche Bilanz lässt sich aus den bisherigen Erfahrungen mit dem Online-­Studium ziehen?
Seidler: Binnen kurzer Zeit sind an den Unis circa 80 Prozent aller Lehrveranstaltungen auf das Online-Format umgestellt worden. Ebenso rasch wurden Online-Prüfungsformate entwickelt. Natürlich gibt es Qualitätsunterschiede, wie gut diese Umstellung jeweils erfolgt ist. Für das Wintersemester sind wir jetzt besser vorbereitet. So sind zahlreiche Module zur Weiterbildung entstanden, um das Lehrpersonal bei der Umstellung zu unterstützen.

DIE FURCHE: Man hört aber auch von Schwierigkeiten, zum Beispiel dass bei den Online-Prüfungen viel geschummelt werden konnte.
Seidler: Wir gehen davon aus, dass auch die Online-Prüfungen gut funktioniert haben. Ich sehe das eher pragmatisch: Geschummelt wird bei Prüfungen immer; es gibt kein 100-prozentig sicheres System. Und die Studierenden haben hohe Qualitätsansprüche an sich selbst – das sollte man nicht unterschätzen, wie aktuelle Umfragen belegen! Zudem wurden oft „Open Book“- Prüfungen durchgeführt, wo man ohnehin auf seine Unterlagen zurückgreifen darf. Man stellt dann nur Verständnisfragen – also keine Fragen, die durch bloßes Auswendiglernen beantwortet werden können.

DIE FURCHE: Die Regierung hat kürzlich mit dem Projekt einer neuen Technischen Universität in Oberösterreich aufhorchen lassen. Sie haben hierzu Kritik geäußert – und sich gewundert, dass die uniko vorab nicht eingebunden wurde. Was wissen Sie heute über den Hintergrund dieses Projekts?
Seidler: Kanzler Sebastian Kurz hat es mit ein paar Sätzen im Rahmen einer Pressekonferenz angekündigt. Bereits am Tag zuvor gab es einen Bericht in den Oberösterreichischen Nachrichten. Bildungsminister Heinz Faßmann hat mich damals telefonisch informiert. Er war jedoch selbst so überrascht, dass er nichts Näheres dazu sagen konnte. Daraufhin habe ich mich an den Bundeskanzler gewandt. Seine Antwort lief dar­auf hinaus, dass er das Konzept in die Hände des zuständigen Ministers gegeben habe. Um das Uni-Budget brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, denn für die neue TU sei ein Extra-Budget vorgesehen, hieß es. Dennoch ist bei einer Entscheidung, die derart stark in das heimische Hochschulsystem eingreift, ein Experten-Diskurs erforderlich. Bei der Gründung der Medizinischen Fakultät in Linz gab es noch einen ausführlichen Prozess, in den alle wesentlichen Stakeholder eingebunden waren.

DIE FURCHE: Welche Kritikpunkte gibt es an der geplanten neuen TU?
Seidler: Bereits der Begriff einer „Digitalisierungsuniversität“ ist für mich problematisch: Man kann eine Uni für Informatik gründen, aber eine Uni für „Digitalisierung“? Das ist doch nur ein Modewort. Die Johannes-Kepler-Universität (JKU) Linz hat ihren technischen Bereich zuletzt so ausgebaut, dass bereits alle dafür relevanten Fächer dort angeboten werden: Informatik, Maschinenbau, Mechatronik und Elektrotechnik. Wenn man in Oberösterreich jetzt eine zusätzliche Uni gründet, würden bis zu den ersten Bachelor-Absolventen im Jahr 2027 nur Overhead-­Kosten entstehen. Dem Standort wäre besser gedient, die Kepler-Universität auszubauen. Eine neue Universität halte ich daher für Geldverschwendung. Hinzu kommt, dass die Kepler-Universität in Wien 2021 eine Dependance eröffnen wird, weil es Schwierigkeiten gibt, Technik-Studierende überhaupt in die Bundesländer zu bringen.

DIE FURCHE: Woran liegt das?
Seidler: Wien hat für junge Menschen aus anderen Bundesländern offensichtlich einen großen Reiz. An der TU Wien gibt es daher Aufnahmeverfahren für Informatik. Wir versuchen, jene Bewerber, die nicht hier aufgenommen werden können, in die Bundesländer zu schicken; aber es funktioniert einfach nicht. Das ist ein universitätspolitisch schwieriges Thema, mit dem wir uns schon lange herumschlagen.

DIE FURCHE: Wie steht es um den Frauenanteil in den MINT-Studien, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und den technischen Fächern?
Seidler: Die Situation ist nach wie vor unbefriedigend. An der TU Wien liegt der Frauenanteil im Mittel bei circa 30 Prozent. Während es etwa in der Architektur über 50 Prozent sind, finden sich in Fächern wie Maschinenbau oder Elektrotechnik nur 14 bis 15 Prozent Frauen. Vieles spielt hier zusammen: der Einfluss der Eltern, der Unterricht, das gesellschaftliche Klima. Es reicht nicht, nur an den Symptomen herumzuschrauben: Wenn ich das Wort „Frauenförderung“ höre, kriege ich die Krise! Wir brauchen keine Anreize für Frauen, sondern müssen bereits frühzeitig in der Kindheit, wenn Rollenbilder entstehen, ansetzen.

DIE FURCHE: Was hat Sie persönlich motiviert, eine technische Richtung einzu­schlagen?
Seidler: Ehrlich gesagt der Zufall, durch das Studienlenkungssystem in der ehemaligen DDR. Man konnte einen Wunschstudienplatz angeben, und wenn man den nicht ergatterte, gab es sogenannte „Umlenkungsgespräche“. Ich bekam also einen Chemie-Studienplatz angeboten, meine Freundin einen für Werkstofftechnik. Mir war Chemie jedoch zu einseitig, für sie war es zu viel Mathematik; so haben wir getauscht und sind beide glücklich geworden (lacht). Historisch gesehen war das DDR-Konzept freilich kein Erfolgsmodell.

DIE FURCHE: Schon lange wird beklagt, dass eine akademische Ausbildung nicht mehr zwingend zu einem höheren Einkommen führt. Aufgrund befristeter Verträge und Forschungsprojekte gibt es gerade auch an den Universitäten prekäre Verhältnisse. Warum wird dieses schwelende Problem nicht endlich ausreichend adressiert?
Seidler: Tatsächlich liegt hier noch einiges im Argen; zu viele Menschen vegetieren in diesem System dahin. Die TU ist da fast schon wie eine Insel der Seligen. Grundsätzlich kann man aber nicht erwarten, dass ich einerseits studieren kann, was ich will, und andererseits alle Absolventen dann genügend Arbeitsplätze vorfinden werden. Zunächst braucht es die Selbstverantwortung der Studierenden: Wenn ich einen bestimmten Weg einschlage, muss ich rechtzeitig darüber nachdenken, wie ich später mein Geld verdienen werde. Es braucht aber auch einen geregelten Uni-Zugang, und es liegt in der Verantwortung der Unis, den Studierenden rechtzeitig mitzuteilen, wenn sie für eine wissenschaftliche Karriere nicht geeignet sind. Hier gibt es zumindest schon einige Ansätze wie die Studieneingangsphase, um Orientierung zu schaffen, oder Programme für Doktoranden, die berufliche Perspektiven außerhalb der Universität aufzeigen sollen.

Corona zeigt, wie nationalstaatlich die EU noch immer ausgerichtet ist. Österreich bewegt sich auch schon auf schmalem Grat – und muss sich wieder europäisch verhalten. (Sabine Seidler)

DIE FURCHE: Kommen wir zu einer globalen Perspektive: Die beschleunigte technologische Entwicklung könnte die Welt radikal verändern. Welche großen Herausforderungen sehen Sie am Horizont?
Seidler: Wir sind bereits mitten in diesem Prozess. Das beginnt mit der Frage, wie unsere Arbeitsplätze künftig aussehen werden. Schon jetzt ist die technologische Entwicklung schneller als das Angebot, das man in der Ausbildung mitgeben kann. Somit wächst der Weiterbildungsbedarf. Forschungsethik wird immer wichtiger. Es ist nicht mehr möglich, Technologien ohne ihre möglichen Auswirkungen zu denken.

DIE FURCHE: Wird die zunehmende Automatisierung der Gesellschaft durch digitale Technologien zu großflächigen Jobverlusten führen?
Seidler: Die technischen Anforderungen für die Arbeitsplätze werden weiter steigen. Und die Jobs für Leute mit niedriger Qualifikation verschwinden bereits. Wir brauchen immer mehr Menschen mit mathematisch-technischem Grundverständnis. Somit stellt sich die Frage: Wie können jene ohne diese Gabe ebenfalls wertvolle Beiträge leis­ten? Und wie wird man die Leute beschäftigen, die ihre Arbeit verlieren? Wir laufen da in ein Riesenproblem hinein. Umso bedauerlicher, dass es darüber noch kaum einen politischen Diskurs gibt!

DIE FURCHE: Eine andere Gefahr ist die Bedrohung der wissenschaftlichen Freiheit durch autokratische Tendenzen, wie man es vor unserer Haustüre in Ungarn beobachten kann. Die uniko hat mit der österreichischen Fachhochschulkonferenz und den Rektorenkonferenzen anderer EU-Staaten ihre Besorgnis über das jüngste Vorgehen der ungarischen Regierung ausgedrückt, die Leitungsbefugnisse der Universität für Theater- und Filmkunst in Budapest auf ein regierungstreues Kuratorium zu übertragen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass Ihre gemeinsame Stellungnahme Präsident Orbán nicht sonderlich beeindrucken wird ...
Seidler: Unabhängig davon, ob man etwas erreicht oder nicht, darf man da nicht einfach zuschauen. Schließlich weiß man nicht, ob das über die ungarische Zivilgesellschaft nicht doch etwas bewirkt. Und für die ungarischen Kollegen und Kolleginnen, die mit einer sehr schwierigen Situation zurande kommen müssen, ist es wichtig, dass sie unsere Solidarität spüren. Sie haben sich etwa aufgrund unserer Stellungnahme zum Umgang mit der „Central European University“ (CEU) in Budapest sehr dankbar gezeigt.

DIE FURCHE: Bemerkenswert, dass die EU kein Rezept gegen den Abbau der politischen Unabhängigkeit von Kunst, Kultur und Wissenschaft in Ungarn findet!
Seidler: Die Coronakrise hat offengelegt, wie nationalstaatlich die EU noch immer ausgerichtet ist. Höchst an der Zeit, daraus zu lernen, denn einzelne Nationalstaaten werden sich im internationalen Wettbewerb nicht gut schlagen können. Hierzulande bewegen wir uns ja auch schon auf einem sehr schmalen Grat. Ob in der Migrationsfrage oder bei den Corona-Hilfen: Österreich muss sich wieder europäisch verhalten.

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