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Die Jugend erobert die Welt

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JUGEND — SCHICKSAL DER WELT. Dokumentarbericht aus vier Erdteilen. Von George Paloczi-Horvath. Schweizer Verlags haus AG., Zürich, 1965. 382 Seiten, Leinen, DM 19.80.

Unter den vielen zeitgenössischen Publikationen über Jugendprobleme nimmt die Studie des in England lebenden Ungarn Paloczi-Horvath insofern einen besonderen Platz ein, als er die Situation der Jugend in vier Erdteilen untersucht und vergleicht. Der Autor geht von der Überlegung aus, daß durch die immense Zunahme der Erdbevölkerung der Anteil der jungen Jahrgänge an der Gesamtzahl der Menschen sich ständig vergrößert. Nach statistischen Schätzungen, auf die sich Paloczi-Horvath, mit genauer Angabe seiner jeweiligen Quellen, beruft, werden die Kinder und Jugendlichen sehr bald in der Überzahl sein. Diese Entwicklung nun vollzieht sich in einer Zeit gewaltiger politischer und gesellschaftlicher Umbrüche, einer allgemeinen Unsicherheit auch in ethischer und moralischer Beziehung, Tatsachen, die das Lebensgefühl und die Lebensformen der Halbwüchsigen beeinflussen. Alte Werte und Normen sind heute in Frage gestellt, neue verbindliche Maßstäbe noch nicht gefunden. In dieser allgemeinen Ratlosigkeit wächst die Jugend der Welt heran, die bald über die Zukunft der Menschheit und unseres Planeten zu entscheiden haben wird.

Der Autor glaubt nun keineswegs, daß die heutige Jugend „schlechter” ist als die vergangener Zeiten, aber sie steht vor größeren Schwierigkeiten durch die rasante Entwicklung von Technik und Wissenschaft und sie lebt häufig ohne den Rückhalt eines gesunden Familiengefüges.

Nicht in der viel verschrieenen Jugendkriminalität sieht Paloczi- Horvath eine ernstliche Gefahr für die Zukunft — so ausführlich er auf dieses Phänomen auch eingeht. Seine Hauptsorge gilt dem Versagen der Erwachsenen, sich dringenden Problemen — wie etwa einer verantwortungsbewußten Geburtenkontrolle — zu stellen; vor allem aber dem Versäumnis, die junge Generation gebührend auf ihre Rolle bei der Gestaltung der Zukunft vorzubereiten.

Paloczi-Horvaths Detailunter- suchungeri sind hočhinteressant und eröffnen viele neue Perspektiven. Er kennt nicht nur die Situation der westlichen Welt aus eigener Anschauung, er hat auch viele Länder hinter dem Eisernen Vorhang, Japan, Lateinameriika und Afrika bereist und an Ort und Stelle die dortigen Jugendprobleme studiert.

Für Amerika erwähnt der Autor das ungesunde Vorantreiben der gesellschaftlichen und sexuellen Entwicklung der Jugendlichen als besondere Gefahr, da sie Hand in Hand geht mit der Vernachlässigung der geistigen und seelischen Entfaltung, was, wie ja allgemein bekannt ist, häufig zu Neurosen der „Miniaturerwachsenen” führt.

Als Ursachen der Jugendkriminalität in den USA und Europa nennt der Autor auf der einen Seite asoziale Umgebung in Elendsvierteln, das Fehlen von echten Bindungen und ungenügende Bildung; auf der anderen Seite aber auch typische Merkmale der Wohlstandsgesellschaft: zu frühe finanzielle Unabhängigkeit der Jugendlichen, die ungenügend vorbereitet sogleich nach der Schulentlassung in den Arbeitsprozeß eingegliedert werden und über verhältnismäßig viel Geld verfügen, bevor sie gelernt haben, damit umzugehen.

In den Volksdemokratien stellt Paloczi-Horvath übereinstimmend den allmählichen Ausbruch der jungen Generation aus der staatlichen Bevormundung auch im privaten Bereich fest. Die jungen Intellektuellen und Künstler dieser Länder sind bewußt auf der Suche nach neuer menschlicher Erfüllung, so illusionslos sie sich auch teilweise gebärden mögen.

In der afro-asiatischen und lateinamerikanischen Welt prangert der Autor, neben Armut und Hunger, das Fehlen von Bildungsmöglichkeiten als besondere Gefahrenquelle an. Er weist auch darauf hin, daß in diesen Ländern die junge Generation schon heute zahlenmäßig einen großen Anteil hat am Kampf ihrer Völker um einen angemessenen Platz in unserer Welt.

So viele Verschiedenheiten Paloczi- Horvath bei der Jugend der von ihm untersuchten Kontinente feststellt, in einer Hinsicht gleicht sich die Entwicklung: Die junge Generation ist zahlenmäßig im Ansteigen begriffen, besonders in Asien, Afrika und Lateinamerika. Sie erobert wirklich die Welt, wie der Autor es in seinem Schlußkapitel formuliert „Die Jugend wird die Welt regieren”. „Niemals zuvor in der Geschichte war die Jugend überall eine so große potentielle Quelle zugleich der Gefahr und der Hilfe, wie es jetzt sowohl in den entwickelten wie in den unterentwickelten Ländern der Fall ist.”

Aufgabe der Erwachsenen wäre es, diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen und der jungen Generation Bedingungen zu schaffen, die sie vor Kurzschlüssen und Explosionen bewahren.

„Diese Explosionen können viele Formen annehmen, von der unerwarteten ,Genieexplosion’ unter den jungen Wissenschaftlern bis zur ansteckenden Unwissenheit, derzufolge jährlich 25 Millionen und mehr Menschen zu den bereits vorhandenen Analphabeten hinzukommen, von moralischem Aufruhr aller Art bis zu überraschenden jugendlichen Revolutionen wie der von Budapest im Jahre 1956 oder der von Saigon im Jahre 1964…”

Die Familie allein genügt kaum mehr, eine gesunde Entwicklung der Jugend zu garantieren. Paloczi-Horvath meint, die Regierungen und wissenschaftlichen Institute, die Presse und öffentliche Meinung müßten sich engagieren. (Jugendministerien, Forschungsinstitute für Jugendprobleme der Universitäten, Jugendbeilagen der Zeitungen, „die nicht nur für die Jugend, sondern für alle Leser geschrieben werden”.) „Wir müssen der Gewohnheit ein Ende machen, daß wir der Jugend nur Aufmerksamkeit widmen, wenn sie ,schwierig’ wird.”

Der Autor ist weder Psychologe noch Soziologe — er hat bisher politische Bücher geschrieben, unter anderen eine Chruschtschow- und eine Mao-Tse-tung-Bdographie und auch ein Werk über Kybernetik. Also ein Außenseiter nimmt hier zu Jugendproblemen Stellung, der freilich über fundierte Sachkenntnis verfügt, und, was das beste ist, über Verständnis und Engagement. Diese Einstellung rüttelt auch den Leser auf und fasziniert selbst da, wo man Einwände erheben möchte gegen Paloczi-Horvaths Ansichten. Sein Buch hat allen denen viel zu bieten, die mit Kindern und Jugendlichen umgehen; nicht zuletzt sollten es Politiker lesen, die öffentliche Verantwortung tragen.

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