"Weg von Sündenböcken"

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In ihrem Blog "Schulgschichtn" wollen drei junge Lehrkräfte zeigen, wie Mittelschulen wirklich sind. Ein Gespräch über Dramatisierungen, Beschönigungen und die Kulturkampf-Thesen Susanne Wiesingers.

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In ihrem Blog "Schulgschichtn" wollen drei junge Lehrkräfte zeigen, wie Mittelschulen wirklich sind. Ein Gespräch über Dramatisierungen, Beschönigungen und die Kulturkampf-Thesen Susanne Wiesingers.

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"Schöne neue Welt": So lautet der Titel der jüngsten Geschichte. Ein Mittelschul-Lehrer aus Niederösterreich schildert darin, was er nach dreißig Jahren Praxis als the dark side of teaching empfindet: "Jahresplanerfüllung, Evaluierung, Beamtentum, Mittelmäßigkeit, Listenliebe". In "Zwischen zwei Welten" geht es indes nicht ums System, sondern um ein Schicksal. Es geht um den 13-jährigen Amar, der nach Österreich geflohen ist und seiner Wiener Mittelschullehrerin nach und nach entgleitet. "Haben wir alles richtig gemacht?", fragt sie sich ratlos. Aber es gibt auch Geschichten über das Gelingen. Etwa jene einer Wiener Pädagogin, die ihre Gebärdensprach-Kompetenz zum Einsatz bringt -und plötzlich merkt, wie ihre Schüler achtsamer werden. 19 Texte sind bislang auf dem Blog schulgschichtn.com zu finden. Initiiert wurde die Plattform von Verena Hohengasser, Simone Peschek und Felix Stadler (Foto von rechts nach links), drei jungen Lehrkräften, die selbst erst vor zweieinhalb Jahren über die Initiative Teach for Austria als Quereinsteiger in die Schule gekommen sind. Hohengasser (eine Psychologin) und Peschek (eine Sprach-und Religionswissenschafterin) unterrichten gemeinsam an der NMS Enkplatz in Wien-Simmering, der Volkswirt Stadler lehrt mit einer Kollegin an der Mittelschule Schwechat-Frauenfeld. Was wollen die drei? Die FURCHE hat nachgefragt.

DIE FURCHE: Seit Mitte Februar ist Ihr Blog schulgschichtn.org online. Was war die Motivation, ihn ins Leben zu rufen?

Verena Hohengasser: Wir haben schon seit einigen Jahren den Schuldiskurs kritisch beobachtet. Als sich im vergangenen Herbst die Debatte durch das Buch "Kulturkampf im Klassenzimmer" von Susanne Wiesinger weiter zugespitzt hat, haben wir endgültig das Gefühl gehabt, dass das medial gezeichnete Bild von Mittelschulen in vielen Punkten unseren Wahrnehmungen widerspricht. Es werden zwar viele Probleme angesprochen, die es tatsächlich gibt, nur waren wir mit der Ursachenzuschreibung nicht einverstanden. Wir wollten deshalb ein möglichst realistisches und vielschichtiges Bild dessen zeigen, was in den Schulen wirklich passiert.

Simone Peschek: Alle, die täglich mit Mittelschulen in Berührung kommen, sind deshalb eingeladen, bei uns zu schreiben - als Lehrerinnen und Lehrer, Direktorinnen und Direktoren, Schülerinnen und Schüler oder Eltern. Damit es einfacher ist und auch die Hemmschwelle sinkt, erscheinen die Artikel anonymisiert. Wir wünschen uns aber für alle Beiträge einen konstruktiven Grundton.

DIE FURCHE: Bis jetzt sind 19 Beiträge veröffentlicht. Zugespitzt gefragt: Wären es mehr gewesen, wenn sich Ihr Blog dezidiert als digitale Klagemauer verstehen würde?

Peschek: Das kann ich nicht sagen. Wobei es eine Klagemauer schon gibt, nämlich teilweise in den Lehrerzimmern, und das ist auch gut und wichtig. Sich dann hinzusetzen und einen Text zu verfassen, ist natürlich ein anderer Schritt. Doch er ist wichtig, weil Schule uns alle angeht.

Hohengasser: Wichtig ist uns auch, dass nicht einzelnen Kindern die Schuld zugeschoben wird -und dass es für Probleme nicht immer sofort Sündenböcke gibt.

DIE FURCHE: Genau das unterstellen Sie dem Buch von Susanne Wiesinger. Was stößt Ihnen auf? Felix Stadler: Was mir am meisten aufstößt, ist, wie darin über Kinder gesprochen wird, nämlich in nicht sehr werschätzendem Ton. Als ob alle Kinder in Mittelschulen nur gewaltbereit und demotiviert wären! Wir erleben das oft ganz anders. Und zweitens stößt mir auf, dass für Alles oder ganz Vieles, was an Schulen derzeit schiefläuft, die Religion, konkret der Islam, verantwortlich gemacht wird. Es ist zwar richtig, dass es damit Probleme gibt und dass es auch Schüler gibt, die in den Extremismus abdriften und gewaltbereit sind -aber eine monokausale Darstellung verdeckt viele Probleme, die tiefergehend sind oder andere Ursachen haben.

DIE FURCHE: Manche würden darauf wohl sagen, dass religiös-kulturell verbrämte Konflikte eben bisher nicht thematisiert worden wären, insbesondere in Wien.

Stadler: Da ist sicher etwas dran. Dass etwas, für das man vorher keine Lösungen gesucht hat, dann so aufbricht, ist nachvollziehbar. Nur hilft es der Sache genauso wenig, wie wenn man Probleme weiter totschweigt. Es bräuchte einen Mittelweg, man müsste die Sachverhalte so darstellen, wie sie sind. Und sie sind eben oft komplex.

DIE FURCHE: Sie, Frau Peschek und Frau Hohengasser, unterrichten an einer Schule, die landläufig als "Brennpunktschule" gilt. Gibt es bei Ihnen eine "Kulturkampfstimmung", wie sie Wiesinger beschreibt?

Peschek: Wir können natürlich nur von unserer Klasse sprechen. Und ich würde auch nicht zu behaupten wagen, dass Frau Wiesinger nicht auch gerechtfertigte Eindrücke gesammelt hat. Aber bei uns gibt es vergleichsweise wenige Probleme mit dem Thema Religion.

Hohengasser: Natürlich gibt es auch ab und zu Missverständnisse, die vielleicht kulturell geprägt sind. Aber dann wird das gemeinsam diskutiert.

DIE FURCHE: Und das trägt Früchte? Oder braucht es gerade in der Elternarbeit letztlich (finanzielle) Sanktionen, wie es Wiesinger und die Regierung propagieren?

Hohengasser: In den allermeisten Fällen funktioniert der Austausch mit den Eltern sehr gut. Es gibt nur vereinzelt Fälle, bei denen sie ihren Erziehungspflichten nicht so nachkommen, wie wir uns das vorstellen. Dann sind Sanktionen am Ende wohl das Einzige, was noch zieht.

Peschek: Die Frage ist, ob man etwa wirklich die Familienbeihilfe streichen soll. Außerdem wäre es wichtiger, schon präventiv in Kontakt zu treten und Maßnahmen zu setzen und nicht erst dann, wenn schon etwas passiert ist.

DIE FURCHE: "Wenn etwas passiert", sollte auch ein Schulpsychologe verfügbar sein. Wie sieht es hier mit den Ressourcen aus?

Peschek: An unserer Schule reichen sie derzeit sicher nicht. Wir haben über 400 Schülerinnen und Schüler und einen Schulpsychologen, der auch nicht jeden Tag und den ganzen Tag da ist.

Hohengasser: Es bräuchte dringend die Möglichkeit, für alle Kinder eine Anlaufstelle zu schaffen, nicht nur für die schlimmsten Fälle. Gerade weil wir einen männlichen Psychologen haben, würde ich mir das für viele meiner Schüler wünschen.

DIE FURCHE: Und was wünschen Sie sich punkto Ethikunterricht?

Stadler: Ich bin generell kein großer Fan davon, dass der Staat den Religionsunterricht finanziert, aber keine Handhabe über die Lehrpläne hat. Deswegen wäre ich für einen Ethikunterricht für alle und keinen eigenen Religionsunterricht.

Hohengasser: Für mich hat der konfessionelle Religionsunterricht in den Schulen auch nicht zwingend einen Platz.

Peschek: Hier haben wir unterschiedliche Meinungen. Ich wünsche mir auch einen Ethikunterricht für alle und schon in der Unterstufe -aber zusätzlich zum konfessionellen Religionsunterricht.

DIE FURCHE: Kommen wir zu einem anderen Thema: Sprachkompetenz. Wie sieht es hier in Ihrer Klasse aus?

Peschek: Das Deutschniveau ist teils erschreckend niedrig -vor allem angesichts des Umstandes, dass viele ihre gesamte Kindergarten-und Schullaufbahn in Österreich durchlaufen haben. Hier fehlt schon im Kleinkindalter die Sprachförderung -und eine bessere Durchmischung bräuchte es jedenfalls.

Stadler: Der Punkt ist, dass viele Kinder - abgesehen von der Zeit mit den Lehrkräften -kaum richtiges Deutsch hören.

Hohengasser: Oft etabliert sich ein eigener Slang, die Kinder verwenden keine Artikel und Präpositionen. "Wir gehen Billa", heißt es dann, oder "Wir gehen Hof."

Stadler: Mehr Ganztagsschulen würden hier sicher helfen.

Peschek: Letztlich haben die meisten dieser Probleme vor allem mit dem Bildungsgrad der Eltern zu tun -und damit, wie sie selbst ihr Kind fördern können. Dass Bildung in Österreich besonders stark vererbt wird, ist ja durch viele Studien belegt.

DIE FURCHE: Ein Abgehen vom differenzierten Schulsystem steht derzeit politisch nicht zur Debatte. Was wären Ihre Vorschläge, um die Mittelschulen zu stärken?

Peschek: Es bräuchte sicher deutlich mehr Unterstützungspersonal - auch Übersetzerinnen, um die Elternarbeit zu erleichtern.

Stadler: Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass es letztlich auf die Person ankommt, die vorne steht: Welche Aus-und Fortbildungen sie hat, welche Einstellung sie gegenüber den Kindern hat und wie sie unterrichtet. Die Systemfrage besteht eher darin, wie man die Auswahl geeigneter Personen und ihre Ausbildung gestaltet und wie an der Schule ein professionelles Arbeiten möglich wird: Ob es etwa Besprechungszimmer, Arbeitsplätze und Internet gibt und damit die Möglichkeit, jahrgangsoder fächermäßig vernetzt zu arbeiten. Doch derzeit ist man oft weit vom Optimalzustand entfernt, es geht eher um Einzelkämpfertum, Durchwursteln und Feuerlöschen statt darum, schulweite Konzepte zu erarbeiten. Hier sind Schulleiterinnen und -leiter gefordert. Man müsste an die Leute herankommen, die das wirklich wollen - und sie dann auch entsprechend bezahlen.

DIE FURCHE: Und was sollte Ihr Blog im Sinne der Mittelschulen erreichen?

Hohengasser: Der größte Wunsch wäre, den Diskurs anzuregen und vielleicht gemeinsam draufzukommen, dass man auch an kleinen Schrauben drehen und für die Kinder viel verbessern kann.

Peschek: Ich habe mir in den vergangenen zweieinhalb Jahren oft im Lehrerzimmer gedacht: Das, was der oder die gerade sagt, finde ich total interessant. Ihre Gedanken nach außen zu tragen, das wäre das Ziel.

Zeigen, was ist

Mit ihrem Blog schulgschichtn.com wollen Verena Hohengasser (30), Simone Peschek (28) und Felix Stadler (23)(von rechts) einen konstruktiven Diskurs über die Situation an Mittelschulen fördern.

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