Die Entscheidung (nicht) zu leben

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Suizid ist ein Tabu - auch in der Jugendliteratur. Koos Meinderts nähert sich diesem Thema literarisch behutsam.

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Suizid ist ein Tabu - auch in der Jugendliteratur. Koos Meinderts nähert sich diesem Thema literarisch behutsam.

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"Papa hat sich erschossen" - unter diesem drastischen Titel veröffentlichte die österreichische Journalistin Saskia Jungnikl 2014 ein Buch über den Suizid ihres Vaters. Auf einen bereits im Jahr 2013 erschienenen Artikel erhielt sie innerhalb weniger Tage hunderte Reaktionen, auch von Menschen, die ebenfalls vom Suizid eines anderen Menschen betroffen sind. Sie weist immer wieder darauf hin, dass Suizid eines der letzten großen Tabus unserer Gesellschaft ist, etwas, über das kaum offen geredet wird.

Heikel auch in der Literatur

Diese Sprachlosigkeit zeigt sich auch in der Jugendliteratur, von der man meinen möchte, dass sie vor keinem Thema zurückschreckt: Von Suizid wird selten erzählt, und wenn, dann auf durchaus problematische Weise, wenn etwa in Jay Ashers "Tote Mädchen lügen nicht" (2009) ein Mädchen auf Kassetten, die es hinterlassen hat, verschiedenen Menschen die (Mit-)Schuld an ihrem Tod zuweist. Der niederländische Autor Gerbrand Bakker zeigte in "Birnbäume blühen weiß" (2001), wie literarisch avanciert vom Verlust der Lebenskraft berichtet werden kann -die Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, ist dort die finale Konsequenz eines Unfalls, bei dem der 13-jährige Gerson das Augenlicht verloren hat.

Bei Jungbrunnen erscheint nun mit "Lang soll sie leben" ein Text des ebenfalls niederländischen Autors Koos Meinderts, in dem jedoch nicht ein junger, sondern ein alter Mensch nicht mehr leben will: Die 15-jährige Ich-Erzählerin Eva bemerkt auf dem Weg in die Schule, dass eine alte Dame zwischen bereits geschlossenen Bahnschranken steht und rettet diese. Doch Frau de Graaf (ihre Perspektive wird in personal erzählten Passagen vermittelt) stand dort mit Absicht - es ist keine schlimme Krankheit oder ein besonderer Verlust, der ihr die Freude am Leben nimmt. Kurz vor ihrem 84. Geburtstag hat sie einfach das Gefühl, es ist genug.

Hier setzt bei der Lektüre, die für Jugendliche ab etwa 14 Jahren (die sich ja in dieser Lebensphase sowohl im Rahmen von Religionsoder Ethikunterricht als auch ganz eigenständig viel mit existenziellen Fragen rund um Leben und Sterben beschäftigen) gut möglich ist, ein gewisses Unbehagen ein: Werden sich die beiden näherkommen, die alte Frau vorhersehbar und kitschig im jungen Mädchen eine Bezugsperson, einen neuen Sinn in ihrem Leben finden? Oder wird, wie es ja in den Niederlanden durchaus schon gesellschaftlicher Konsens ist, dass Recht auf einen selbstbestimmten Tod plakativ propagiert?

Aber nichts davon passiert: Der Autor versteht es vielmehr gekonnt, beide Lebensgeschichten ein Stück weit zu skizzieren, ohne sie unglaubwürdig nah aneinander heranzuführen. Bei der Geschichte der alten Frau verläuft dies rückwärtsgewandt, es gibt kurze Episoden aus ihrer Jugend, aber auch prägende Ereignisse der letzten Jahre, wie der Besuch einer Ausstellung der jung verstorbenen Malerin Paula Modersohn-Becker (die im Text eine besondere Rolle spielt) oder der Tod der besten Freundin.

Beim jungen Mädchen hingegen geht es voran: Sie entfremdet sich von der ehemals besten Freundin und beschließt, den jährlichen Sommerjob auf einer Insel diesmal allein anzutreten. An Frau de Graaf, die sie nach dem Ereignis am Bahnübergang einige Male im Seniorenheim besucht hat, schreibt sie eine Ansichtskarte. Doch als sie nach ihrer Rückkehr wieder dorthin fährt, wirkt die alte Dame, als wäre sie bei etwas erwischt worden und schickt sie weg - denn sie hat bereits sehr bewusst alle Vorbereitungen für ihren Tod getroffen.

Stimmig und unaufgeregt

Überzeugend im Umgang mit einem so brisanten Thema ist die Art, wie der Autor weder aus Sicht der Figuren noch auf einer Meta-Ebene Antworten auf all die schwierigen Fragen rund um das selbstgewählte Sterben gibt - danach zu suchen, bleibt den Lesern und Leserinnen selbst überlassen. Je nach Interesse und Persönlichkeit werden diese den Fragen selbst nachgehen oder das Gespräch mit Erwachsenen suchen. So stimmig und unaufgeregt die Annäherung dieser zwei so verschiedenen Figuren, dieses kurze Aufeinandertreffen von mit dem Leben abschließen und das Leben so richtig angehen, erzählt wird, endet es auch: Eva erbt von Frau de Graaf ein von ihr gemaltes Selbstporträt - und fünfzig Euro, mit denen sie zum Friseur geht, um die lang geplante Kurzhaarfrisur umzusetzen.

Lang soll sie leben

Von Koos Meinderts

Aus dem Niederländ. von Monika Götze

Jungbrunnen 2016 24 S., geb., € 14,95

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