Die Vergangenheit lebt ewig

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Das Schauspielhaus Graz startet mit einer Uraufführung: in "Thalerhof“ werden Tote lebendig und fordern die Gegenwart mit poetischer Kraft heraus. Nicht alles führt da zum großen Theatersieg.

Die polnische Literatur ist bekannt für ihre Lyriker und Exzentriker. Einer von ihnen ist der Geopoet Andrzej Stasiuk. Schreibend treibt er sich in den von der Westsanierung noch vergessenen südpolnischen Territorien herum, um die letzten vormodernen Bilder Europas einzusammeln. In seinen Büchern findet man die Welt von gestern, in der man zum Frühstück Kaninchen schlachtet, der Mittag so still ist wie die Nacht und beide so abgründig sind wie das Sternenmeer. Die Welt der Hühnerställe und der Holzschuppen. Die Welt der Männer mit den glasigen Blicken und der Frauen mit den Kopftüchern. Die Welt der still erleuchteten Unbeweglichkeit und des Auf-der-Stelle-Tretens. Die Welt, in der den Dingen die einfachen Namen genügen. Stasiuk ist süchtig nach dieser verlorenen Welt, einer Welt, die vor allem an Menschen und nicht an Geschichte interessiert ist. Höchstens spekulativ versuchen sich seine Figuren an großen Geschichtszusammenhängen.

Ein Antikriegsstück

Mit dem Auftragswerk "Thalerhof“ fällt der spekulative Vorhang: Wir sehen ein Antikriegsstück mit seinen Toten, die sich in die Gegenwart gerettet haben und langsam an die Oberfläche kommen. Die Geschichte des Lagers "Thalerhof“, heute der Flughafen in Graz, welches von 1914 bis 1917 eines der frühen Konzentrationslager war, zeigt die Deportation von Ruthenen, orthodoxen Slawen, die im katholischen Kaiserreich verdächtigt wurden mit dem Feind, dem Zaren, zu sympathisieren. Rund 7000 wurden nach Graz verschleppt, rund 1700 von ihnen starben hier an Hunger und Typhus. Ihr Massengrab wurde beim Flughafenausbau während der NS-Zeit entdeckt. Heute ist das Lager fast völlig aus dem Bewusstsein verschwunden. Nur eine schlichte Gedenktafel mit den Namen der Opfer erinnert an die Geschichte dieser vergessenen Menschen.

Stasiuk lässt die Toten wiedererstehen: "Die einzige erreichbare Form der Unsterblichkeit wird das Gedenken sein“, heißt es einmal. "Thalerhof“ hebt die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit auf und lässt einen Reisenden (Jan Thümer), Alter Ego des Autors, durch das Stück ziehen. Er kommt nach Galizien, dort hocken die Dörfler und lauschen den Geschützen: Horchen ist das Los der Armen, meint der Reisende. Knapp 100 Jahre später spricht er mit den toten Soldaten, die sich wie Maulwürfe aus der Erde gegraben haben: der Soldat Jusuf aus Mostar (Kaspar Locher), der Jude Mendel Brod (Sebastian Klein) und der Russe Afanasij (Laurenz Laufenberg).

Die auferweckten Zombies wollen wissen, wie ihre Sache, für die sie sich abschlachten ließen, ausgegangen ist: Keiner von den Friedhofbesuchern wird den Mut aufbringen, ihnen die Wahrheit zu sagen. Also graben sie sich weiter, um 600 km weiter östlich beim Flughafen Graz erneut aufzutauchen. Dazwischen erscheint eingewebt das Schicksal der Deportierten: Unter ihnen der orthodoxe Geistliche Maxym Sandowicz (Simon Zagermann). Er wurde damals hingerichtet, weil er sich weigerte, auf den Kaiser zu schwören. Polen verehrt ihn bis heute als Märtyrer. Zu den stärksten Szenen dieses Abends gehört das bitterliche Flehen seiner schwangeren Frau Sofia (Seyneb Saleh), sein Leben angesichts des ungeborenen Kindes nicht seinem religiösen Trotz zu opfern.

Zwischen Betroffenheit und Pädagogik

Alles in allem bleibt der Abend unentschlossen: Zwischen Volksromantik und politischen Stereotypen setzt die Regie (Anna Badora) auf maximale Betroffenheit und hohen Zeigerfinger. Vor allem gegen Schluss greift man zu pädagogischen Mitteln: Wir befinden uns am Flughafen, dort halten angewiderte Flughafenpassagiere die aus der Erde Krabbelnden für ungewaschene Gastarbeiter (Bühne: Raimund Voigt). Der Kaiser im Rollstuhl erteilt Befehle: Träumt, denn alles ist sinnlos! Der "Heilige“ wird aufgerufen: "Last Call for Maxym“. Es wird seine letzte Chance sein, in die Grube zu kommen. Denn auch sein Gott hat ihn verlassen. Einmal heißt es: "Es ist schwer zu trösten, ohne zu lügen“. Gutes Theater muss nicht lügen.

Thalerhof

Schauspielhaus Graz

12., 22., 23., 25. Oktober; 7., 9. November

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