GROSSE SOMMER IN GELASSENHEIT

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IN "DAS GELBE BUCH" UNTERZIEHT ANDREAS UNTERWEGER DIE SPRACHE EINER GRUNDLEGENDEN REVISION.

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IN "DAS GELBE BUCH" UNTERZIEHT ANDREAS UNTERWEGER DIE SPRACHE EINER GRUNDLEGENDEN REVISION.

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Ein gelbes Haus inmitten einer Ebene. In der Nähe Flusslandschaften, ein riesiger Auwald und dann Grasland. Hier verbringen ein paar Buben bei ihrem Großvater eine wunderbare Kindheit, dominiert von den Farben und Gerüchen des Sommers. "Es war ein richtig großer Sommer - heiß und mit so vielen Tagen gleißend weißen Sonnenscheins hintereinander ..."

Der Autor und Songwriter Andreas Unterweger, dessen literarische Anfänge bei der Literaturzeitschrift manuskripte in Graz liegen, hat bei Droschl bereits drei Prosabände herausgebracht. Nach seinem Debütroman "Wie im Siebenten" (2009) über das Schreiben entlang fiktional verorteter persönlicher Wegmarken folgen die Novelle "Du bist mein Meer" und seine biografisch grundierten Notizen "Das kostbarste aller Geschenke."

Zurück zu den Anfängen

Seine jüngste Prosa "Das gelbe Buch" schlägt thematisch in eine völlig neue Kerbe und erinnert in besonderer Weise an die literarischen Prägungen seiner Anfänge. Denn hier geht es nicht nur um einen Rückzugssehnsuchtsort in einer scheinbar anderen Welt, sondern - und das rückt ihn in die Nähe der frühen sprachexperimentellen Arbeiten der Grazer Gruppe - er unterzieht die Sprache und das Selbstverständliche einer grundlegenden Revision.

Den Anstoß dazu habe er durch seinen Umzug bekommen, so Unterweger in einem Interview, weil er plötzlich selbst "in einem kleinen Haus an einem Fluss in einer Aulandschaft" gelebt habe, "konfrontiert mit einer völlig neuen Fauna". Der in St. Johann/Grafenwörth entstandene Text besteht aus zwei Büchern mit vielen Kapiteln und Unterkapiteln und weist kurioserweise zwei ineinander verschachtelte Inhaltsverzeichnisse auf. Mottos, die grundsätzlich zu Beginn eines Textes zu finden sind, werden am Schluss nachgereicht - mit dem Hinweis, dass sie auch ausgeschnitten und an anderer Stelle eingeklebt werden können.

Häuptling Großvater

Die Handlung folgt der Kartografie einer Glückskindheit. Die scheinbar elternlosen Buben leben ein wunderbar unbeschwertes Leben an einem Fluss. Für sie sind praktisch nur zwei Jahreszeiten von Bedeutung: der über alles geliebte Sommer und der entbehrliche Winter. Eigentlich sind "zwei Jahreszeiten sogar um eine zu viel." Tagaus, tagein baden sie im magisch anmutenden Fluss, setzen sich in die Sonne und betrachten inmitten der einzigartigen Landschaft das Himmelsspiegelbild und die Kaulquappengemälde im Wasser. Einer hat einen Namen -Biber - und will ihm gerecht werden. Auch wenn bereits "gelbe Blätterteppiche den morgennebelgrauen Fluss hinabtreiben", taucht er in der Früh noch ins kalte Nass.

Der Großvater bietet den Kindern einen Hort der Geborgenheit. Er kocht für sie, liest aus Winnetou vor und erklärt ihnen die Welt, die Sprache und das Leben. Eines ist klar: "Solange man einen Großvater hat, [ist man] nie, niemals, wirklich 'endgültig verloren'". Der Großvater ist nicht nur ihr "Socken-, Pullover-, Hosenstopf- oder "Aufräumhäuptling", sondern er weiß auch, dass es für alles eine Zeit gibt. Und der Großvater hat immer Recht, "vielleicht aufgrund seiner großen Lebenserfahrung, wegen übernatürlicher Fähigkeiten oder einfach aus purem Glück".

Dann ist da das Nachbarsmädchen, in das sich Biber verliebt. Unter ihrem Türmchen-Fenster zeichnet er einmal eine riesige Unendlichkeitsschleife in den Schnee und bleibt dort liegen, bis man ihn findet, bibbernd, mit bloßen Füßen, eine verdorrte Rose in der Hand.

Schließlich ist die Rede vom "sagenumwitterten" Dorf Hoboken, in dem "man noch in der Sprache hause":"Man bade noch in ihr (im Wort für 'Fluss'), man wärme sich an ihr (am Wort für 'Feuer'), und wenn man hungrig sei, ... dann könne man das Wort für 'Paradeissauce' auslöffeln wie einen Topf voll Paradeissauce." Es muss ein Zauberland sein, eine Sehnsuchtswelt, "schön, einfach und trostvoll", in die es sich zu flüchten lohnt.

Ab und an kommt bei ihnen ein Waldläufer vorbei. Seine Geschichten über die Auwälder eröffnen den Buben eine neue märchenhafte Welt, die sie mit dem Wechselspiel von Fiktion und Realität konfrontiert und sie zu fantastischen Gedankenexperimenten einlädt. Die alten Bezeichnungen für die Welt werden austauschbar, weil "die Dinge im Wald ihre Namen verlieren". Der Baum mutiert plötzlich zum Wildschwein, da es sich dahinter verstecken kann. So weichen sprachliche Differenzierungen. Wie es funktioniert, zeigt das Märchen des Waldläufers. Das Wildschwein mutiert zum Platzhalter in einem trotzdem noch verständlichen Text. Einmal mehr werden die Fäden zwischen Sprache und Wirklichkeit als willkürlich entlarvt.

Gefinkeltes Spiel mit Worten

Unterweger betreibt als kühner Sprachartist ein gefinkeltes, lustvolles, ja philosophisches Spiel mit den Worten. Nicht umsonst nennt er in einem Gespräch die Wiener Gruppe, Wittgenstein oder die Kybernetik als zentrale Impulsgeber. Am Schluss führt er zahlreiche für seine Prosa relevante Werktitel an. Man ist ihnen permanent auf der Spur, weil er Versatzstücke daraus in seinen Text montiert, sie verändert und in ein neues semantisches Gefüge bettet. Er zeigt, wie Bedeutungen zerfallen und neu entstehen, in anderen Fügungen, wenn Worte im wortspielerischen Auseinandernehmen der Sprache in neuen Sinnzusammenhängen mit Bedeutung aufgeladen werden. In Anlehnung an Hofmannsthals Chandos-Brief zerfallen hier die Eierschwämme wie Worte: "'ein paar Radieschen', sagte Biber. 'Ein Paradieschen!', frohlockte das Mädchen."

Interessant ist die Perspektive der Welterkundung: Die forschenden Fragen der Kinder machen weder vor der Sprache noch vor dem Leben Halt. Dazwischen glänzen Lebensweisheiten, die sich aus der Verschmelzung mit der Natur ergeben. "Wenn man einem im Wind schwankenden Baum nur lange genug zusieht, ... dann wird alles gut." Das leuchtende Leben in der gelben Landschaft offenbart ein Aroma der Gelassenheit und Entschleunigung. Hier wird das Große im Kleinen erklärt, wunderbar einfach und mit großem sprachlichen Witz.

Das gelbe Buch

Roman von Andreas Unterweger Droschl 2015

240 S., geb., € 20,-

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