Gurus auf die Schaufel genommen Titel

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Die Indologin und Tibetreisende Alexandra David-Neel schrieb noch mit 100 Jahren ein Buch über die Leichtgläubigkeit.

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Die Indologin und Tibetreisende Alexandra David-Neel schrieb noch mit 100 Jahren ein Buch über die Leichtgläubigkeit.

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Ein Buch, in dem Gurus aller Art samt ihrer leichtgläubigen Anhängerschaft auf die Schaufel genommen werden - das ist nicht nur hochaktuell, sondern geschieht im konkreten Fall auch von einer Wissenden, die zu den besten Kennern der indischen und tibetischen Philosophie und Religion zählte. "Im Banne der Mysterien" ist das letzte Buch von Alexandra David-Neel. Die Autorin ließ mit hundert Jahren noch einmal ihren Reisepaß verlängern und dachte auch noch an eine Fortsetzung des Buches. Sie starb 1969 mit 101 Jahren, "Le Sortilege de Mystere" erschien posthum 1972 und wurde nun erstmals aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt.

Genau zur richtigen Zeit. Denn das Heer derer, die auf Sekten, die hocheffizient Geld scheffeln, auf obskure geistige Führer und Pseudo-Esoterik aller Art hereinfallen, war seit Menschengedenken noch kaum je so groß wie heute. Gewandelt haben sich die Äußerlichkeiten. Während zu Alexandra David-Neels Zeiten Inder klar die Marktführer waren, verkaufen sich derzeit Indianer besonders gut. Indianische Weise können allerdings indischen Gurus kaufmännisch nicht annähernd das Wasser reichen. Doch gemeinsam ist ihnen die bei der Vermarktung unweigerlich eintretende Trivialisierung dessen, was Wissen oder Glaube war und nun Ware wird. Dabei nisten allerdings Betrug und Selbstbetrug, Schwindel und Illusion in engster Nachbarschaft. Alexandra David-Neel hat für jede Variante Beispiele ihrer Zeit parat, also von etwa 1890 bis nach dem Zweiten Weltkrieg, die sie mit kühlem Witz präsentiert. Die Äußerlichkeiten sind zeitbedingt, am Kern der Sache hat sich wenig geändert.

Eine der hübschesten Szenen erlebte sie um 1890 in einer Londoner Gesellschaft, die sich "Die Höchste Erkenntnis" nannte und in deren Klubgebäude sie ein Zimmer gemietet hatte, um vor ihrer ersten Indienreise ihr Englisch zu perfektionieren. Die Gesellschaft verfügte über eine ansehnliche Bibliothek, in der die Mitglieder rauchend lasen und wo während des Aufenthaltes der jungen Französin nur ein einziges Mal ein lautes Wort fiel, als jemand eintrat und auf einem Sofa Platz nahm.

"Kaum hatte er sich hingesetzt, als einer der Leser, der ihm mit den Blicken gefolgt sein mußte, einen Schrei ausstieß. Einen Schrei der Überraschung, fast des Schreckens. ,Learner!' ,Was ist?' fragte dieser ... Wir alle sahen Learner an und den, der ihn angesprochen hatte, aber noch bevor dieser letztere auf Learners Frage antworten konnte, rief nun seinerseits ein anderer der Anwesenden: ,Learner! Stehen Sie auf! Sie sitzen auf einem Meister!'

Es galt im Klub als Gewißheit, daß die ,Meister' manchmal mit ihrem Astralleib zurückkamen und den Eingeweihten erschienen ... Learner, der mit Astralkörpern nur unzureichend vertraut war, hatte den durchsichtigen Leib des Meisters auf dem Sofa in keiner Weise bemerkt und sich guten Gewissens daraufgesetzt. Er sah ihn auch nicht, nachdem er sich erhoben hatte, obgleich Miß Holmwood und zwei andere Leser erklärten, ihn deutlich zu erkennen und sich zum Zeichen der Verehrung mit zusammengelegten Händen vor ihm niederknieten. Die anderen, so auch ich, erblickten weiter nichts als das gewohnte Kreisen des bläulichen Rauches, mit dem die zahllosen Zigaretten der Leser die Bibliothek erfüllten." Denkt man an die Fähigkeiten indianischer Eingeweihter, die Millionen Leser unserer Zeit dem kürzlich verstorbenen Carlos Castaneda vertrauensvoll abnahmen, blickt man schon mit viel weniger Hochmut auf die überspannten Londoner Damen von anno 1890 zurück.

Alexandra David-Neel hat sich ein Leben lang eine Mischung von kühlem Skeptizismus und grundsätzlicher Aufgeschlossenheit für esoterische Erkenntnissuche bewahrt. Sie lebte einige Zeit als Eremitin in einer Höhle an der Grenze Tibets in 3.900 Meter Höhe und machte 1929 in ihrem Buch "Heilige und Hexer" die Europäer mit Phänomenen bekannt, die gewiß weit außerhalb des Horizonts des naturwissenschaftlichen Weltbildes liegen. Eine umso unverdächtigere Zeugin ist sie, wenn sie über "diese vielgestaltige Welt" berichtet, "die sich zuweilen unglaublich und grotesk, zuweilen überaus erbärmlich darstellt ... diese Welt der Spiritisten, der Lehrlinge des Okkultismus, der Anhänger von Geheimsekten und all derer, die abenteuerliche Rituale zelebrieren" und denen sie oft auch dort mit Nachsicht und Sympathie begegnet, wo sie der profunden Kennerin des Buddhismus, Hinduismus und Lamaismus lächerlich erscheinen.

Sie läßt einen viel öfter lächerlichen als gespenstischen Zug seltsamer Gestalten am Leser vorüberziehen. Vom Scharlatan Josephin Peladan, der den Leuten auf der Rosenkreuzer-Welle den Kopf verdrehte und Würden wie die eines "Komtur von Geburah" verteilte, bis zu Inayat Khan, der als Musiker nach Europa kam, hier den Beruf eines spirituellen Führers ergriff und nach großen Erfolgen eines Tages seiner europäischen Frau, seinen Kindern und Europa wieder den Rücken kehrte und nach Indien entschwand. (Seine Tochter sprang während des Zweiten Weltkrieges als britische Agentin mit dem Fallschirm über Frankreich ab, wurde der Gestapo verraten und erschossen.) Der Bogen reicht von den ebenso verstiegenen wie leichtgläubigen, begüterten britischen Damen im noch von den Engländern beherrschten Indien, die unter der Führung eines spirituellen Meisters namens Larsen nachts Reisen ins Weltall unternahmen, bis zu dem indischen Pilger, der nach einer langen und mühsamen Reise zum Himalaya, angewidert vom Gedränge Gläubiger, die einander rücksichtslos niedertrampelten, um einen Blick auf die Statue des Gottes Badri werfen zu können, heimreiste und auf die Frage, warum er nicht zum nächsten heiligen Ort weitergereist sei, nur antwortete: "Wozu?"

Alexandra David-Neel brachte nicht nur ihren eigenen Mystizismus mit der Kritik an den Auswüchsen des Mystizismus elegant unter einen Hut. Ebenso überzeugend bekundet sie ihre Sympathie für viele von denen, die sie mit unverhohlener, aber feiner, selten verletzender Ironie vorführt. Sie habe nämlich, schreibt sie, nicht das Recht, diese Sonderlinge zu tadeln oder zu verspotten, "denn fast mein ganzes Leben hat aus dem bestanden, was die Mehrzahl der Leute als Extravaganzen bezeichnen". Man spreche, schrieb die fast Hundertjährige, heute oft von Unangepaßten, aber sei der typische Angepaßte, "das perfekt gezähmte Haustier, denn etwa ein nachahmenswertes Beispiel für Menschen, die fähig sind, Vergleiche anzustellen und abzuschätzen, welches Maß an Befriedigung sie innerhalb oder außerhalb der Norm zu finden vermögen?" Es empfehle sich, meint sie, darüber nachzudenken.

Im Banne der Mysterien Von Alexandra David-Neel, Übersetzung: Dagmar Türck-Wagner, nymphenburger, München 1998, 272 Seiten, geb., öS 248,

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