Im weltweiten Durcheinanderklingeln

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Weitere Gedanken eines Ex-Optimisten und nunmehrigen notorischen Pessimisten zum heranrückenden Jahr 2000.

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Weitere Gedanken eines Ex-Optimisten und nunmehrigen notorischen Pessimisten zum heranrückenden Jahr 2000.

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Neben Computersystemen, Datenhighway und Internet zählen auch Cyber-space und virtual realities noch zu den Hochleistungserrungenschaften dieses verebbenden Jahrtausends. Nur habe ich leider den Eindruck, daß die High-tech-Fetischisten gerade deswegen in die virtual reality desertieren, weil die real reality - wie schon Schopenhauer gesagt hat - nicht auszuhalten ist, nicht zu renovieren, schon gar nicht zu optimieren. Und wenn man aufmerksam die Gebrauchsanweisung studiert, wird man merken, daß auch die virtual realities rein inhaltlich, substantiell und essentiell nicht viel sensationell Neues und Gutes zu bieten haben, sondern eigentlich nur den Müll, der uns auch händisch und mechanisch andauernd gelingt.

Die revolutionären Diagnoseapparaturen der technischen Medizin oder die Telechirurgie haben schließlich ebenfalls nicht dazu geführt, daß es weniger Krankheiten und weniger Kranke gibt, nicht einmal dazu, daß man präziser leidet und digitaler stirbt. Sie taugen eigentlich nur als gnadenlose Angsteinjager und drohen permanent mit allen möglichen heimtückischen Eventualitäten und Körperkatastrophen. Und mit Hilfe der Medienmaschinerie wird neben allen anderen Katastrophen auch jede eventuelle Körperkatastrophe sofort rund um den Erdball in jeden einzelnen Haushalt transportiert. Wer nicht in Panik ist, ist nicht normal, nur die Katastrophengebiete bleiben von dieser Katastrophe vorderhand verschont. Die haben ihre eigenen.

Die gnadenlosen Maschinen haben dazu geführt, daß der Mensch es mittlerweile als den Sinn seines Daseins zur Kenntnis genommen hat, den Maschinen Sinn zu stiften. Die Maschinen sind nicht mehr zu unserer Unterhaltung und zu unserem Wohl da, sondern wir zur Unterhaltung und zum Wohl der Maschinen. Denn was wäre der schönste computertomographische Tunnel ohne irgendeinen sterblichen Fließbandorganismus, den man zur Sterblichkeitsbestätigung hineinschieben und umsurren lassen könnte. Ein Fall für die Couch, zweifelsohne. Psychotherapie für computertomographische Tunnel ist eine der wenigen Martklücken, die noch klafft. Daß Computer von einem Virus befallen werden können, ist das Erfreulichste, was ich in den letzten Jahren aus der Welt der Spitzentechnologie gehört habe. Ich würde ihnen auch Zahnschmerzen und Lungenkrebs gönnen, ich würde sie gnadenlos zugrunde gehen lassen.

Wenn ich heute durch die Stadt spaziere, bemerke ich natürlich auch, daß sie vor Menschen überquillt - Stadt heißt ja mit einem zeitgenössischen Wort Ballungsraum, und seit meiner Kindheit hat sich die Weltmenschheit beinahe verdoppelt. Aber die Menschen unterhalten sich auch zusammengeballt nicht mehr miteinander, jedenfalls nicht von Angesicht zu Angesicht, sie haben nicht einmal die Zeit, einander wahrzunehmen.

Die Menschen sprechen aber nicht deswegen nicht mehr miteinander, weil sie dahintergekommen wären, daß es - als Gipfel und triste ultima ratio des Erkenntnispessimismus - gar nichts zu sagen gibt und keine Botschaft mehr von Bedeutung ist, sondern weil jeder Mensch scheinbar mit sich selber spricht, tatsächlich mit seinem Mobiltelefon: Sie rennen einzeln durch die Straßen, an echten Menschen vorbei, zwischen echten Menschen hindurch, gestikulieren, schneiden Gesichter, lachen, sondern lautstark belangloses Gequassel ab, und wäre da nicht dieses kleine, schwarze Ding, das die Einzelwesen zwischen Mund und Ohr halten, sie sähen wirklich allesamt aus wie hochprozentige Autisten.

Früher haben sich drei Menschen im Kaffeehaus an einen Tisch gesetzt, um sich miteinander zu unterhalten, und sei es auch bloß small talk gewesen. Heute setzen sich drei Menschen an einen Tisch, es klingelt dreimal, und die drei unterhalten sich - mit drei Abwesenden. Beim small talk bleibt es freilich. Sage keiner, daß eine solche Kommunikationsmethode a la longue nicht zu zwischenmenschlicher Verwahrlosung und seelischer Verelendung führen muß. Es ist ein Kennzeichen vieler Erfindungen, daß sie häufig das Gegenteil dessen bewirken, was sie beabsichtigt haben. So werden auch die Informationsrevolution, die Kontakttechnologie, Erreichbarkeitsexplosion und permanente potentielle Omnipräsenz die Langeweile und die Einsamkeit, die sie ausrotten wollten, in einer neuen Dimension metastasieren lassen.

Apropos Klingeln: Damit man im weltweiten, unaufhörlichen Durcheinandergeklingel noch weiß, wer wann wo tatsächlich gemeint ist, muß jeder Mensch, der eine eigene Nummer hat, freilich auch ein eigenes Geläut haben, auf das er hört. Und da bekommt dann auch die Kultur endlich wieder ihre Chance: Ich kenne Menschen, die auf Mozarts kleine Nachtmusik hören, auf Beethovens IX., auf Mahlers VI., auf ein paar Takte Brandenburgisches Konzert von Johann Sebastian Bach. Wieder andere haben "Candle in the wind" als personal signation gewählt, "I can get no satisfaction", "Yesterday", "Laß uns schmutzig Liebe machen" und "Let it be". Einer aber muß immer "Hallo" sagen, wenn "Spiel mir das Lied vom Tod" erklingt.

Fremd ist mir die Welt also schon vor der Jahrtausendwende geworden, aber außen schäbig und innen hohl ist sie mir geblieben. Mein kleinkindlicher Jahrtausendwechselenthusiasmus verendet knapp vor dem Ziel jäh und jämmerlich: Umso näher das neue Jahrtausend rückt, desto weniger Lust habe ich, hineinzusteigen, und ich glaube mittlerweile auch nicht mehr, daß die, die es nicht mehr erleben, deswegen zu bedauern sind.

Ihr werdet nichts versäumt haben, tote Freunde! Unser Bundespräsident hat in seiner letzten routinemäßigen Neujahrsansprache im Fernsehen in Farbe gemeint, man sollte die Zukunft nicht den Pessimisten überlassen. Ich habe mich direkt angesprochen gefühlt, ich war natürlich sehr betroffen, daß mich mein Bundespräsident derartig herabwürdigt, und ich nehme an, daß er auch keinen Wert mehr darauf legt, daß ich in Zukunft meine Einkommensteuer bezahle. Immerhin habe ich sie ja ausschließlich mit meiner Fin-de-siecle-Stimmung und Dekadenzliteratur erwirtschaftet. Seine Rede am Neujahrstag 2000 werde ich vorsätzlich boykottieren. Als Ex-Optimist weiß ich, wohin Optimismus und Hauruckhalluzinationen führen. Ich weiß, daß das neue Jahrtausend nicht mit einem neuen Tag der Menschheit beginnen wird, nicht einmal hell, warm und schön. Nicht bei null, nur bei null Uhr. Wie seit Menschengedenken an jedem Tag wird man auch am 1. Jänner 2000 die Zukunft nolens volens auf später verschieben müssen.

Ich weiß, daß mein Lamento demnächst im ohrenbetäubenden Lärm des Heers der Optimisten und Zahlenzauberfetischisten und der Jahreswechselvergnügungsindustrie untergehen wird, und ich will auch gar kein apokalyptisches Szenario entwerfen und das dritte Jahrtausend jetzt schon in Bausch und Bogen verteufeln. Denn für eine Gesamtbeurteilung ist es noch zu früh. Aber eines weiß ich jetzt schon mit großer Sicherheit: Im Jahr 2001 wird es weltweit einen ziemlichen Durchhänger geben, und dann wird auch der Bundespräsident an unsereins nicht mehr vorbeikönnen.

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