Mathematik als Geheimwaffe

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Ein Brite führt in die Mathematik ein - die Beispiele, auf die er sich stützt, ergeben ein militärgeschichtliches Kompendium.

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Ein Brite führt in die Mathematik ein - die Beispiele, auf die er sich stützt, ergeben ein militärgeschichtliches Kompendium.

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Man soll sich die Superlative bekanntlich für Fälle aufsparen, in denen man sie wirklich braucht. Also für Bücher wie T. W. Körners "Mathematisches Denken". Sollte es tatsächlich ein Buch geben, das jemanden veranlassen könnte, sein Leben fortan völlig dem "Vergnügen am Umgang mit Zahlen" zu widmen: Da wäre es! Dabei geht der Autor, Mathematikprofessor in Cambridge und Direktor für mathematische Studien am Trinity Hall College, geradezu hinterfotzig ans Werk. Er ist offenbar ein Genie der Didaktik.

Große Teile handeln gar nicht von Mathematik, sondern von den Eigenheiten der Mathematiker, von den Schwierigkeiten der Mathematikerinnen, von der Zahl der Kranken, an denen man ein neues Medikament ausprobieren muß, um Aussagen über dessen Wirksamkeit machen zu können, von der Ausbreitung der Choleraepidemie des Jahres 1854 in Soho, vom Unterschied zwischen der Einminuten-Geschwindigkeit und der Sechsstunden-Geschwindigkeit des Windes, dessen Unkenntnis zum berühmten Einsturz der Brücke über den Tay in einer Sturmböe führte, von Leonardos Forschungen über Turbulenzen, vor allem aber vom Zweiten Weltkrieg.

Anhand dieser und vieler anderer Themen erteilt Körner einen Mathematikunterricht, der es in sich hat. Nun sind aber die mathematischen Kenntnisse des Rezensenten leider dürftig. Daher hat er die Formeln ausgelassen und "Mathematisches Denken" vorerst als zeitgeschichtliches Buch gelesen - und zwar mit zunehmender Faszination.

Hier summieren sich die Beispiele für praktische Problemlösungen mit mathematischen Methoden nämlich zur konzentrierten Darstellung des Beitrages der Mathematiker zum Sieg der Alliierten. So waren die Besatzungen deutscher U-Boote fest von der Existenz eines neuen, wesentlich brisanteren britischen Sprengstoffs für Wasserbomben überzeugt, während die britische Luftwaffe aufgrund einer statistischen Überlegung bloß die Tiefeneinstellung für die Explosion von 200 oder 100 auf 25 Fuß gesetzt hatte: Man verzichtete fortan auf den Versuch, U-Boote zu vernichten, die bereits in eine Tiefe entflohen waren, in der die Trefferquote nur noch sehr gering war und konzentrierte sich auf die wenigen Boote, die sich im Moment des Angriffs noch über Wasser befanden. Dadurch stieg die Zahl der versenkten Boote pro 100 Angriffe auf das Vierfache. Die Mathematiker legten den Witz vom Betrunkenen, der seinen Autoschlüssel unter der Laterne sucht, weil er dort etwas sieht, und nicht im Dunkeln, wo er ihn verloren hat, sozusagen auf 1.000 verlorene Autoschlüssel um: Wenn in einem großen Gebiet 900 Schlüssel im Dunkeln und nur hundert unter Laternen verloren wurden, wird man trotzdem auf die Schnelle mehr Schlüssel finden, wenn man nur unter den Laternen sucht.

Angesichts der erdrückenden alliierten Übermacht in den letzten Phasen des Krieges erinnert man sich heute kaum mehr an die Jahre, in denen der Ausgang auf Messers Schneide zu stehen schien. Hitler selbst dürfte bereits 1942 klar geworden sein, daß er Rußland nicht mehr besiegen konnte, doch verdrängte er diesen Gedanken. Großbritannien hingegen schrammte noch 1943 knapp an der Niederlage im U-Bootkrieg vorbei. Wie knapp, das galt noch lange nach dem Krieg als Staatsgeheimnis. Anfang 1943 schien Hitler dem Ziel, England zu isolieren, näher denn je.

In den ersten zehn Tagen des März versenkten deutsche U-Boote 41, in den zweiten zehn Tagen 56 Schiffe, insgesamt eine halbe Million Tonnen, wobei zwei Drittel der verlorenen Schiffe im Konvoi gefahren waren. Selbst heute, so Körner, könne man "nicht auf diesen Monat zurückblicken, ohne ein Grauen über die von uns erlittenen Verluste zu empfinden." Die Verlustquote der britischen Handelsmarine war höher als die der Army, dabei war die Bezahlung der Matrosen miserabel und endete mit dem Augenblick des Unterganges. Die Atlantikschlacht war unbarmherzig. Wurde ein Schiff im Konvoi getroffen, konnte und durfte kein anderes stoppen, niemand kennt die Zahl der qualvoll auf Flößen und in Booten Gestorbenen. Der Matrose Poon Lim des Frachters "Ben Lomond" wurde nach 130 Tagen gerettet: Ein absoluter Überlebensrekord.

Als das Konvoisystem in Frage stand, sorgten Mathematiker für Klärung. Sie berechneten die Verlustraten im Verhältnis zur Größe und Geschwindigkeit der Geleitzüge, zur Zahl der die Handelsschiffe begleitenden Kriegsschiffe und den Effekt gleichzeitiger Luftsicherung. Sie kamen zum Resultat, daß eine nur um zwei Knoten höhere Geschwindigkeit die Verluste eines aus der Luft gesicherten Konvois um 40 Prozent senken würde, worauf die Praxis, schnelle Schiffe gemeinsam mit langsamen auf die Reise zu schicken, aufgegeben wurde. Besonders schnelle Schiffe fuhren zeitweise sogar allein, weil sie dabei sicherer waren als im Geleit.

Unterdessen stritten die Marine und das strategische Bomberkommando mit mathematischen Argumenten um Flugzeugbaukapazitäten. Luftmarschall Harris meinte, die Konvoisicherung sei bloß "ein Hindernis auf dem Weg zum Sieg", denn mit den Flugstunden, die nötig seien, um ein deutsches U-Boot zu versenken, könne man ein Drittel von Köln zerstören, womit er sich stark verrechnete. Patrick Blackett, einer der führenden Köpfe der Atlantikschlacht, hielt ihm entgegen, die von Island operierenden Langstreckenflugzeuge könnten während ihrer etwa 30 Einsätze umfassenden Dienstzeit mindestens einem halben Dutzend von Schiffen das Leben retten, was wichtiger sei als der Abwurf von 100 Tonnen Bomben, die "nicht mehr als ein Dutzend feindlicher Männer, Frauen und Kinder töten sowie eine Anzahl von Häusern zerstören und vielleicht eine geringfügige Beeinträchtigung der Produktion."

Im März 1943 gingen noch 82 Schiffe allein im Nordatlantik verloren, doch im April nur noch 39 und im Mai 34, während die Zahl der vernichteten U-Boote von je 15 im März und April auf 41 im Mai emporschnellte. Noch 1942 hatte Admiral Dönitz, der Befehlshaber der U-Boote, einem schwedischen Journalisten erklärt, Flugzeuge könnten U-Boote genausowenig vernichten "wie eine Krähe einen Maulwurf". Im Mai 1943 war ihm klar: "Wir haben die Schlacht auf dem Atlantik verloren." Dieser Erfolg, so Körner, "war durchaus keine Selbstverständlichkeit. Die Japaner ... waren ... nicht fähig, die Funkstille innerhalb des Konvois zu wahren, und waren darüber hinaus nicht in der Lage, wirksame U-Boot-Abwehrstrategien zu entwickeln. Auf diese Weise verloren sie 7/8 ihrer Handelsschiffe."

Der Sieg im U-Bootkrieg war nicht nur geänderter Taktik, sondern vor allem einer weiteren Leistung britischer und polnischer Mathematiker zu verdanken. Dönitz erklärte Hitler, daß der "zeitweilige" Rückschlag mit der Intensivierung der Luftüberwachung sowie dem neuen 15-Zentimeter-Radar der Briten zu erklären sei. Er hielt für absolut unmöglich, daß sie den Code der deutschen Enigma-Verschlüsselmaschinen geknackt hatten, was seiner Meinung nicht einmal möglich war, wenn es dem Gegner gelungen war, die Enigma eines U-Boots in die Hand zu bekommen. Viel größer war seine Sorge, die Konkurrenz vom deutschen Heer oder von der Luftwaffe könnte die Marinemeldungen mithören. Er hätte es besser wissen können. Einige Kommandanten berichteten, daß sie kurz nach Durchgabe einer Positionsmeldung aus der Luft angegriffen worden waren. Ein Kommandant, der darauf bestand, daß die Briten den Code kennen mußten, wurde als Spinner abgetan. Hingegen ließ die Air Force deutsche Fernaufklärer erstaunlich oft unbehelligt. Sie war von den Kryptologen händeringend darum gebeten worden. Die Wettermeldungen der Aufklärer halfen ihnen, den wechselnden deutschen "Tagesschlüssel" zu ermitteln. Da Dönitz' Kriegsmarine nun zwar mit einer verbesserten Enigma arbeitete, deren Möglichkeiten aber nicht ausnützte, fanden die britischen Mathematiker für 90 der 112 Tage zwischen 10. März 1943 und Ende Juni den deutschen Schlüssel.

Mathematik hat viel mit mit Phantasie zu tun. Ein hübsches Beispiel: Die Briten kannten das Prinzip der deutschen Enigma, bissen sich aber am Aufbau der Tastatur die Zähne aus. Von jener der Schreibmaschinen wich sie jedenfalls ab. Polnische Mathematiker probierten herum, fanden zu ihrem Erstaunen bereits vor Kriegsausbruch heraus, daß die Deutschen die ersten fünf Buchstaben der obersten Tastenreihe mit a-b-c-d-e belegt hatten, worauf sie auch den Rest ableiten konnten, und schenkten den Briten zwei nachgebaute Enigmas. Körner führt den Leser in die Grundlagen der Verschlüsselungswissenschaft, der Kryptographie, ein: Die Beschäftigung mit dem schwierigen, abstrakten Thema ist ein intellektuelles Abenteuer, das jedes ebenso zeitraubende Computerspiel weit in den Schatten stellt. Zeitgeschichtlicher Succus des Kapitels: Hauptproblem bei der Entschlüsselung der deutschen Funksprüche war der Zeitfaktor. Erst als die Briten eine Anzahl von "Bomben" gebaut hatten, große, mechanische, lautstark mit Lochkarten arbeitende Rechenmaschinen, die Tag und Nacht in Betrieb waren und in kurzer Zeit die gewaltige Zahl aller möglichen Enigma-Einstellungen durchspielten, war auch der Krieg der Kryptologen für die Briten gewonnen.

Am 5. Mai 1945 wollte zum ersten Mal ein deutsches U-Boot des neuen Typs XXI einen britischen Kreuzer angreifen. Es konnte erstmals unter Wasser schneller fahren als die meisten Geleitzüge und wäre möglicherweise zu einem größeren neuen Problem für die Alliierten geworden. Der Kommandant setzte gerade zum Schuß an, als ihn die Nachricht von der deutschen Kapitulation erreichte. Er brach den Angriff ab und kehrte zu seiner Basis zurück.

Mathematisches Denken - Vom Vergnügen am Umgang mit Zahlen Von T.W. Körner, Birkhäuser Verlag, Basel 1998, 720 Seiten, Tabellen, Illustrationen, geb., öS 497,-

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