Molière monströs

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Luk Perceval wollte für die Salzburger Festspiele Molière nicht nur umschreiben, sondern neu denken - faszinierend und dennoch fragwürdig.

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Luk Perceval wollte für die Salzburger Festspiele Molière nicht nur umschreiben, sondern neu denken - faszinierend und dennoch fragwürdig.

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Es schneit ohne Unterlass. Nach fünf Stunden ist, was einmal Molière gewesen ist, gnädig unter einem milden weißen Flaum verschwunden. Der Geizige oder vielleicht sogar Molière selbst ist tot, zu lernen gibt es aus diesem Ende nichts. Einer liegt am Boden, und zerstört ist nicht nur ein Leben, sondern alle, die sich um ihn freiwillig oder gezwungenermaßen gruppierten, sehen reichlich beschädigt aus.

Das Inidviduum, ein Biest, die Gesellschaft ein Moloch: Wir befinden uns nicht mehr länger im Reiche Molières, sondern in jener gegenwärtigen Zeit, die aus der Farce des Einzelnen die Tragödie aller gemacht hat. Nicht die Erlösung von allem Übel, nicht die Besserung des Unholds von seinen Schwächen wird vorgeführt, sondern wie einer abstürzt und jene Unglücklichen mitreißt, die seine Lebensbahn kreuzen. Luk Perceval ist in der Stadt, und mit ihm der Zweifel an der Möglichkeit der moralischen Aufrüstung mit den Mitteln des Theaters. Auf der Halleiner Pernerinsel, die die Salzburger Festspiele seit längerem als Ort für Bühnenereignisse der etwas monströseren Art entdeckt haben, wird gerade das beliebte Klassikertöten ausgeübt.

Autor auf den Kopf gestellt

Bei Luk Perceval, jenem Regisseur, der vor Jahren schon mit seinem Projekt Schlachten Shakespeare-Dramen zu einem Gewaltspektakel eingedickt hat, wird dieses Mal Molière auf den Kopf gestellt. Früher stand er mit beiden Beinen sicher auf dem Boden, er schrieb, um zu gefallen, um zu unterhalten, um der Gesellschaft zu zeigen, welch wunderliche, windige Gestalten sich in ihrem Innersten tummelten. Der Einzelne, der aus der Rolle fiel, erregte sein Misstrauen, und am Ende fügte sich der wieder harmonisch in das Ganze ein. Das Getriebe war kurzfristig ins Stottern geraten, aber dann kam doch wieder alles beizeiten ins Lot. Das hatte etwas Tröstliches, auch wenn es mit den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht so recht zusammenpassen wollte.

Luk Perceval aber ist einer vom Schlage der Untröstlichen. Er nimmt sich vier Dramen Molières vor und sieht hinter all der vordergründigen Heiterkeit das Grauen des Menschenmöglichen. Feridun Zaimoglu und Günter Senkel haben sich ihm zugesellt, um Molière nicht nur umzuschreiben, sondern neu zu denken. Das ist faszinierend und dennoch fragwürdig.

Bestechend erweist sich die Idee, die lasterhaften Figuren Molieres mit dem Autor gleichzusetzen. Der Menschenfeind, Don Juan, Tartuffe und der Geizige, die vier Gestalten, um die es Perceval geht, sind ihm nichts anderes als vier Ausformungen der gleichen Person. Sie alle gehen auf im großartigen Thomas Thieme, der die Grenzen zwischen dem Autor und seinen Kunstfiguren auflöst. Der Menschenfeind ist dann nicht nur der Fremdkörper der Gesellschaft, der geheilt werden muss, um die Gesellschaft zu retten, sondern auch eine Spielfigur Molières selbst. Der Autor Molière ist nie ganz bei sich, weil er immer gleichzeitig für das ganz andere, das er auf die Bühne zu stellen trachtet, mit Haut und Haaren einsteht.

Über die Identität ist wieder einmal der Ausnahmezustand ausgerufen worden. Ich ist nicht nur ein anderer, sondern mehrere, die alle einander ins Gehege kommen. Deshalb geht es rabiat zu auf der Bühne. Manchmal befinden wir uns als Zuseher weit weg von dem, was Moliere einmal hat Literatur werden lassen. Vage Andeutungen einer Figur, die wie Don Juan aussieht, aber nicht aus dem Molièreschen Holz geschnitzt ist, tobt als Verführungsmonster über die Bühne. Die Aura des Menschenfeindes umweht ihn, ein paar Zitate erinnern an Molièrsche Eleganz.

Das war's dann schon. Was so einleuchtend wirkt - Molièrsche Komödien verkappt autobiografisch zu lesen -, geht im Ganzen nicht auf. Denn eigentlich ist die Bühne ein Ort der Individualisierung, der Differenzierung. Charaktere sind nicht nur plane Wesen, sie verstören durch ihre Widersprüchlichkeit, durch ihre Abgründe, durch ihre geheimen Leben, die sie mit sich allein austragen. Selbst Molièrsche Gestalten, leicht durchschaubar, wie sie nun einmal sind, erhalten ihren Witz-Bonus durch die die Spaltung in eine Existenz des Scheins und eine des Seins. Bei Perceval aber wirken vier Stücke wie ein einziges. Vier literarische Identitäten werden auf eine zusammengestaucht. Die Ideen der Komödien haben hinter die Idee des Regisseurs gefälligst zurückzutreten. So kommt ein Theater der Grobschlächtigkeiten über uns.

Vier Stücke wie ein einziges

Ein einziger Typus bleibt übrig von den Molièrschen Schwächlingen, ein Fiesling als gebrochener Charakter. Einer, wie ihn Thomas Thieme verkörpert, steht für sich allein. Er hat die anderen im Blick, die anderen haben ihn im Blick, er ist der Solipsist, die anderen bilden die Masse. Er leitet und lenkt, die anderen begeben sich in Abhängigkeit auch dann noch, wenn sie gegen ihn opponieren.

Dabei entstehen wunderbare Theatermomente. Zu denken ist an Patrycia Ziolkowska, die als luftig weiches Wesen in Erscheinung tritt, das sich auf die Kunst der Verführung versteht und zur Selbstzerstörung neigt, derb und zärtlich gleichermaßen auftritt. Die beiden stachen heraus aus einem zehnköpfigen Ensemble, das nahezu ständig als Kollektiv auf der Bühne anwesend ist. Das ist als Gegenwartsanalyse auf der Basis der literarischen Tradition zu nehmen. So allein kann sich einer gar nicht fühlen inmitten all der Leute, als dass er sich nicht unter ständiger Überwachung fühlt.

Der Bühnenschnee deckt alles zu. Vier Stücke verschwinden unter ihm, um verschwommene Konturen eines einzigen, allerdings ganz neuen anzunehmen. Es handelt sich um das so alte und doch junge Drama des von allen guten Geistern verlassenen Menschen. So ganz wollte auch dem Premierenpublikum der kühne Entwurf nicht einleuchten.

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