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BAHR UND DAS THEATER

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In diesem zu Ende gehenden Jahr 1963 gedachte man des 100. Geburtstages von Hermann Bahr. Sein umfangreiches kritisches, feuilletonistisches Opus ist der jüngeren Generation so gut wie unbekannt. Seine Romane sind längst vergriffen, und von den Theaterstücken konnten sich nur einige wenige auf dem Spielplan behaupten. Es gibt eine Hermann- Bahr-Gesellschaft, aber man hört nicht viel von ihr. Mit dem Nachlaß bestehen Schwierigkeiten: Wir werden so bald keine Hermann-Bahr-Gesamtausgabe zu sehen bekommen. Diese Lücke wenigstens teilweise zu schließen, sind die beiden von Univ.-Prof. Dr. Heinz Kindermann betreuten und mit ausführlichen Einführungen und Anmerkungen versehenen Bände „Essays” und „Kritiken”, die vom Land Oberösterreich und der Stadt Linz im H Bauer-Verlag, Wien herausgegeben wurden, in hohem Maße geeignet. H.A.F.

In Hermann Bahrs Gesamtwerk nehmen seine Theaterkritiken einen besonders wichtigen Platz ein. Sie sind in ihrer farbigen Anschaulichkeit, in ihrer souveränen Terrainkenntnis, in ihrer gleichzeitigen Beherrschung der literarischen und der theatralischen Perspektiven eine historische Quelle erster Ordnung. Gewiß ist auch in den Theaterkritiken von Hermann Bahr vieles subjektiv beurteilt — wie dies ja im Wesen jeder Kunstkritik liegt. Und doch heben sich Bahrs Kritiken von denen anderer Theaterkritiker seiner Zeit durch wichtige Eigenheiten ab, die sie uns besonders wertvoll und aufschlußreich erscheinen lassen.

Von außerordentlicher Bedeutung war es, daß Hermann Bahr, bevor er erstmalig in der Wiener „Deutschen Zeitung” das Amt des ständigen Theaterkritikers übernahm, sich selbst schon als Dramatiker erprobt hatte und daß er, der Freund von Emanuel Reicher, von Josef Kainz und Max Burckhard, die schöpferische Welt des Theaters genau kannte. Was er als Kritiker bei den von ihm zu besprechenden Aufführungen sah und beschrieb, beobachtete und schilderte er als ein Wissender, als ein mit den handwerklichen wie mit den künstlerischen Erfordernissen des Theaters aufs engste Vertrauter. Diese Tatsache allein gab Hermann Bahrs Kritiken einen gewaltigen Vorsprung auch gegenüber denen sonst sehr gewiegter Kritiker, denen jedoch der Einblick in die theatralische Praxis, in Möglichkeiten und Grenzen der Darstellungskunst und der Umsetzung der dramatischen Partitur ins Szenische, in die Verkörperung, in optische und akustische Wirksamkeit fehlte.

Dazu kam als zweite Besonderheit: Hermann Bahrs intime Kenntnis nicht nur der gesamten europäischen Literatur, sondern auch der Philosophie und der bildenden Kunst. Für Hermann Bahr waren theatralische Ereignisse niemals künstlerische Leistungen bloß des Bühnenlebens; vielmehr sah er sie so gut wie immer in viel größeren Zusammenhängen, im Gesamtgeflecht des geistigen Geschehens, in Analogie zu vielen gleichartigen Leistungen auf anderen literarischen, musikalischen, philosophischen Gebieten oder auf denen der bildenden Kunst. Hermann Bahr löste so das jeweils in seiner Kritik angeleuchtete, theatralische Ereignis aus seiner Vereinzelung und stellte es mitten hinein in das Kräftespiel geistes- und kunstgeschichtlicher Ursachen und Wirkungen. Die Maßstäbe aber waren für den, der sich auch in Berlin und Paris schon bewährt hatte, der Spanien und Rußland kennengelernt hatte, immer vom Ganzen des europäischen Kräftespiels her gegeben.

Daß Hermann Bahr mit Hilfe seiner Essays selbst eine der treibenden Kräfte im geistesgeschichtlichen Entwicklungsgang seiner Zeit war, hätte ihn zu mancher Einseitigkeit verleiten können, wäre er nicht von Haus aus eine ambivalente Natur gewesen, die selbst im Augenblick energischesten Verfechtens eines Standpunktes insgeheim auch schon das Recht der Gegenseite erkannte. So spüren wir oft mitten in seinem Verneinen ein geheimes Erkennen auch des Bejahenswerten; und mitten im leidenschaftlichen Bejahen bemerken wir eine stillschweigende oder auch schon leise angedeutete Skepsis.

Zu dem allem aber kommt Hermann Bahrs Gabe, das auf der Szene Beobachtete zum Greifen nahe zu schildern. Natürlich bewegt ihn meist zunächst das Stück selbst, sein Gehalt, sein Aufbau, das Neue des Vorwurfs, die ideelle Bewältigung und Einstellung, das dichterische Menschenbild, die sprachliche Struktur in der Dialogformung. Aber von solchen Analysen aus findet er immer wieder den Weg herüber zur einfühlsamen Beschreibung und Kritik der darstellerischen und szenischen Leistung. Auch dort, wo er glaubt, tadeln zu müssen, steht er der Arbeit des Schauspielers mit größter Achtung gegenüber, weil er alle Nöte und alle die zu überwindenden Schwierigkeiten im schöpferischen Prozeß der Rollengestaltung viel zu gut kennt, um leichtfertig von oben her zu urteilen. Auch das Feld des Regisseurs ist ihm so vertraut, daß er Größe und Fehlerquellen einer Inszenierung in der Mehrzahl der Fälle nach sehr einleuchtenden Maßstäben zu bewerten vermag.

Nie erweist sich der Theaterkritiker Hermann Bahr als Zyniker, der um des Spasses willen herabsetzt. In jeder seiner Besprechungen spürt man seine leidenschaftliche Anteilnahme, seine geheime Liebe auch zu den Dramatikern und Bühnenkünstlern, die er nicht lobpreisen kann. Wo er aber glaubt, bejahen zu können, tut er es begründend und ermutigend, voll einer weiterführenden Bestätigung. Deshalb wirken Bahrs Kritiken weder jemals vernichtend, noch so verhimmelnd, daß der Beurteilte zur lähmenden Eitelkeit verführt würde. In Hermann Bahrs Nein und Ja schwingt immer ein gleichzeitiges Aber mit, das in einem Fall aus dem Staub hebt und einen Türspalt zum vielleicht Rettenden öffnet, und das im anderen Fall die Bäume nicht in den Himmel wachsen läßt, weil es die Gefahren der Uberper-

fektionierung, der drohenden Routine andeutet und zugleich oft auch schon bisher noch unentdecktes Neuland im Begabungsfeld des einzelnen Künstlers aufzeigt.

Durch seine Theaterkritiken half Hermann Bahr mit, Persönlichkeiten wie Maeterlinck, Hofmannsthal und d’Annunzio für das ganze deutsche Sprachgebiet zu entdecken, so daß er von denen, die das Gewicht dieser Tat damals noch verkannten, den spöttischen Beinamen „Der Entdecker” erhielt. Daß Hermann Bahr aber zu den Entdeckern nicht nur von bisher unterschätzten Dramatikern, sondern besonders auch zu den Entdeckern bisher noch unterschätzter oder verfehlt eingesetzter Schauspieler gehörte, erweist sich in seinen Kritiken hundertfach.

Er gehörte freilich auch zu den genauen Beobachtern des Publikums und seiner Reaktionsfähigkeit. Es ist der Soziologe Hermann Bahr, der hier mitwirkt beim Deuten gar mancher berechtigten oder unberechtigten Stellungnahme. Weil Hermann Bahr das Phänomen Theater immer wieder als in der Spannung zwischen Bühne und Publikum lebendig Wirkendes erkennt, interessierte ihn nicht nur die „hohe” Dramatik in ihrer Bühnenbewältigung und Publikumswirkung, sondern auch die Trivialdramatik, das im Bühnenleben gerade so wichtige Gebrauchsstück. Hermann Bahr wußte nur zu gut, daß gerade auch diese Gebrauchsstücke ein sehr wesentlicher Kulturspiegel sind — sowohl in der Art, wie sie därgeboten werden, als auch im Intensitätsgrad des Publikumsbegehrens nach ihnen. All diese Beobachtungen sprechen aus Hermann Bahrs Theaterkritiken im Positiven und Negativen. Aufs lebendigste lassen so die besten der Theaterkritiken Hermann Bahrs alle die Ereignisse der letzten Jahrhundertwende in ihrem Glanz und in ihrem Verfehlten, in ihrem jubelnden Erfolg oder in ihrer Ablehnung, in ihrem Ins-Leere-Treffen noch einmal vor uns erstehen.

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