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Ärgernisse und Magie des Fernsehens

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Das französische Fernsehen ist in zwei merkwürdige Prozesse verwickelt. Der erste folgte einer Sendung über die Prostitution. Die Hersteller dieser Sendung hatten heimlich auf der Straße das Kommen und Gehen einiger lockerer Damen gefilmt und die Technik des Ansprechens auf dem Filmstreifen festgehalten. Die betreffenden Damen strengten bei Gericht eine Verleumdungsklage gegen die Verantwortlichen der Sendung an. Der Grund ihres Zorns: außerhalb der Orte ihrer „Arbeit“ seien sie als ehrenwert bekannt (?), und die öffentliche Aufdeckung ihrer Tätigkeit habe ihnen ernste Schäden zugefügt.

Der zweite Prozeß ist von anderer Art. Bei der Direktübertragung eines sportlichen Ereignisses zeigte die Kamera unter den Großaufnahmen von Zuschauern ein Paar, das sich zärtlich umarmte, während ihm der Fortgang des Spieles gleichgültig zu sein schien. Der legitimen Gattin des Mannes aber, die der Sportsendung vor ihrem Empfänger folgte, wurde auf diese Weise der Seitensprung ihres Mannes enthüllt. Eine Scheidung folgte. Der Betroffene verklagte das Fernsehen, die Mauer seines Privatlebens unbilligerweise durchbrochen zu haben. Er forderte hohen Schadenersatz.

Hat das Gericht der ersten Instanz die Damen der ersten Sendung ohne viel Zögern abgewiesen, so zeigte es sich im zweiten Fall in großer Verlegenheit, bevor es das Fernsehen zu einer Grundsatzstrafe verurteilte. Da in beiden Fällen Berufung eingelegt wurde, erwartet man nun mit Interesse die Urteilssprüche der Obergerichte.

A ber noch eine weitere Sendung hat die Debatte über die Rechte des Fernsehens auflodern lassen. Diese Sendung behandelte das Rassenproblem. Die Hersteller hatten auf eine öffentliche Bank in einer sehr belebten Straße ein Paar gesetzt, bestehend aus einem Schwarzen und einer jungen Weißen. Aus einem in der Nähe geparkten Auto registrierte eine versteckte Kamera die Reaktionen des Erstaunens oder der Mißbilligung der Passanten, die an dem ungleichartigen Paar vorübergingen. Bei der Vorführung war der Effekt um so verblüffender, als eine geschickte Montage des Filmstreifens nur die vielsagendsten Bilder beibehalten hatte.

Die Sendung entfachte eine zweifache Diskussion. Erstens über den Wert des „Testes“ selbst. „Sie haben normale Reaktionen der Neugier und des Erstaunens über das Ungewöhnliche als Rassenhaß ausgelegt“, sagte man den Fernsehleuten; „andere, ebenso ungleiche Paare, die aber von derselben Hautfarbe sind, wie zum Beispiel ein großer Mann und eine sehr kleine Frau oder umgekehrt, hätten die gleichen Ausdrücke des Erstaunens hervorgerufen.“ Das ist sehr wahrscheinlich. Es hindert jedoch nicht, daß durch das Spiel mit sorgfältig ausgesuchten Bildern die Vorstellung de? Rassenhasses si.eh dem Geist all derer auf- gepräjt hat, die, diese Sendung gesehen haben. Das ist zumindest der Beginn eines Vertrauensbruches, der zugleich den überwältigenden Einfluß wie auch die Gefahren des Fernsehens deutlich macht.

Aber — und das ist der zweite Punkt der Debatte — wenn die ohne ihr Wissen gefilmten Passanten der Öffentlichkeit so präsentiert werden, als seien sie vom Gefühl des Rassenhasses erfüllt, haben sie dann nicht das Recht zu protestieren? Vertrauensmißbrauch oder nicht — hatte das Fernsehen das Recht, ihre erstaunten Gesichter, ihre mißfälligen Blicke zehn Millionen oder mehr Fernsehzuschauern als Speise vorzusetzen? Können Gefühle, die niemand anderem als ihnen selbst gehören, auf diese Weise der öffentlichen Massenverbreitung ausgeliefert werden? Moralisten — wenn nicht gar Juristen — müssen auf diese Fragen Antwort geben. Und zwar sehr schnell; denn das Fernsehen besitzt eine derartige Möglichkeit der Nachforschung und der Verbreitung, daß für die Freiheit des Individuums schwere Probleme auftauchen können.

Denn das Fernsehen bedient sich der Schocktechnik der modernen Zeit. Die von manchen Seiten aufgestellte Behauptung, „das Bild könne nicht lügen“, ist falsch. Unter kundigen (aber nicht unbedingt ehrlichen!) Händen kann es die überzeugendsten falschen Zeugnisse hervorbringen. Man kann leicht ermessen, welche Gefahr eine solche Macht für Geist und Seele der Menschen bedeuten kann, ja die Gefahren, die der ganzen Menscheit drohen, wenn sie die neue „Zauberlaterne“ der Völker nicht fest in den Händen hält. Daher darf man das Fernsehen nicht länger als eine minderwertige Unterhaltung betrachten, über die Kinder herfallen, die Intellektuelle und kultivierte Leute aber verachten.

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