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Diplomat und Prophet

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Der von dem Sohn des ehemaligen italienischen Botschafters am Wiener Hofe Herzog von Avarna im Vorjahre publizierte Briefwechsel seines Vaters mit dessen Berliner Amtskollegen, Botschafter Ricardo Bollati „II carteggio Avarna—Bollati, Quaderni della Rivista storica italiana“, 2, Napoli 1953 hat durch die jüngste Entwicklung des italienischjugoslawischen Konflikts in Triest ein neues aktuelles Interesse erhalten. Ursprung des brieflichen Gedankenaustausches zwischen den beiden italienischen Diplomaten war das beide Freunde quälende Gefühl, sie könnten auf ihren Posten die Politik ihres Landes, schon als sich Italien neutral erklärt hatte, nicht mehr mitmachen. Sie waren schon damals im Frühsommer 1914 überzeugt, daß ihre Regierung auf den Krieg gegen Oesterreich-Ungarn zusteuere. Um diese sorgenvolle Erkenntnis bewegten sich auch die Gespräche, die sie zu Beginn der Krise mit den maßgebenden Persönlichkeiten in Rom bis zum König hinauf hatten. Angesichts des Konflikts der Regierungspolitik mit ihrer Ueberzeugung hatten die beiden Diplomaten ihre Demission gegeben, sich aber dem von den höchsten Stellen an sie gerichteten Appell, auf ihren Posten auszuharren, mit Vorbehalt gefügt, mußten also die in ihrem Gewissen als schmähliche Tragik empfundene Amtspflicht bis zum Abbruch der Beziehungen fortsetzen. In den Briefen der beiden Freunde ergießt sich ihr Entsetzen über die von den römischen Staatsmännern verfolgten politischen Pläne. Immer wieder bemühen sich die beiden Briefschreiber verzweifelt, die unheilvolle Entwicklung aufzuhalten. Wie Avarna, der nüchternere und stets besonnene ältere der beiden Botschafter, klagt, fehle es in Rom an einer wirklich charakterstarken Regierung, um die von innen und außen künstlich genährte, auch aus ganz anderen Motiven angetriebene Irredenta-Bewegung in den Schranken zu halten. Man weiche vor dieser auch aus Angst um den Bestand der verfassungsmäßigen Einrichtungen und der Dynastie zurück.

In der Beurteilung eines voraussichtlichen Angriffes Italiens auf Oesterreich-Ungarn, wenn dieses vom Unglück der Waffen getroffen würde, waren sich die Briefschreiber einig. Bollati bezeichnete ein solches Handeln als einen unauslöschlichen Schandfleck, eine „macchia indelebile“ auf dem guten Namen und der Ehre Italiens. Avarna sprach sogar von einer „allergrößten Schmach“; er betonte in diesem Zusammenhang wiederholt die Wichtigkeit, die für Italien der Bestand Oesterreich-Ungarns als Puffer gegen den slawischen Ausdehnungsdrang habe; die wahren Interessen Italiens im Mittelmeer zu wahren, seien eine Aufgabe, welche die römische Politik in d’r Behandlung der Adriafrage nicht genug würdige.

Die beiden Partner des Briefgespräches unterhielten sich fortlaufend über die einzelnen Peripetien der mittlerweile zwischen Wien und Rom und durch Berlin geführten Verhandlungen, soweit sie ihnen überhaupt zur Kenntnis gelangten. In ihren Briefen fällt dabei so manches, wenn auch maßvoll gehaltene Wort der Kritik über die Haltung der Wiener Politiker. Auch die verhängnisvolle Bedeutung des Dreibundartikels VII wird im Zusammenhang mit den aus der Besetzung Serbiens sich ergebenden Kompensationsforderungen Italiens eingehend erörtert; die römische Mission Bülows erfährt ein geringschätziges Urteil. Im übrigen werden in den Briefen Gerüchte erwähnt, wonach in Berlin angeblich an die Abtretung von Schlesien, ferner ein anderes Mal an die Uebergabe des P’rchtesgadenerlandes an Oesterreich gedacht worden sei, um Oesterreich zur Abtretung des italienischen Teiles Südtirols zu bewegen. Dem früheren Botschafter Graf Wedel, der in besonderer Mission nach Wien geschickt worden war, habe Kaiser Franz Joseph gesagt, wenn man ihn zur Abtretung österreichischen Gebietes an Italien zwänge, würde er abdizieren und sich nach Bregenz zurückziehen. Daß der Monarch schließlich aber doch einlenkte, sei, wie eine Bemerkung in dem" Briefwechsel besagt, auf angebliche Einwirkung des jungen Thronfolgers zurückzuführen, den Bollati dafür mit dem Lob: „Bravo, ragazzo“ belegt.

Der ehemalige italienische Botschafter Cerrutti, der noch manchem hier in Wien aus der Zeit seiner Tätigkeit als Botschaftsrat unter Avarna in gutem Andenken steht, hat diese Briefsammlung mit einer Einleitung versehen, die in einer Einleitung der Briefausgabe meisterhaft die Charaktere der beiden Botschafter und die Verhältnisse der Zeit ihrer Amtsführung schildert. Dem Herzog Avarna blieb es nicht erspart, die Kriegserklärung Italiens an Oesterreich-Ungarn, die seiner Einsicht und seinem Willen widersprach, zu überreichen. Als er nach Rom zurückfuhr, äußerte er zu dem ihn begleitenden Cerrutti: „Ich bin alt, und mir bleibt nur übrig, mein Leben zu beschließen. Sie sind jung und werden viele Dinge sehen. Behalten Sie im Gedächtnis, daß dieser Brief, wie immer er auch ende, eine Aera der Unordnung eröffnen wird, wie es bisher noch keine gegeben hat. Oesterreich-Ungarn wird zu bestehen aufhören, und es wird ein .unermeßliches Uebel sein, denn trotz aller ihrer Schwächen und einiger schwerer Fehler Colpe besaß die Habsburgermonarchie eine große, von der Natur verliehene Mitgift Dote... An ihrer Stelle werden neue Staaten erstehen. Es wird Serbien sehr gekräftigt werden, das der Nachbar Italiens werden wird, ein junges, impulsives, von Ausdehnungsdrang rasendes und niemals befriedigtes Serbien, ein gefährlicher Rivale...“

„Im Mai 1915 hatte Avarna“, wie Cerrutti schließt, „noch nicht den Zerfall anderer großer Staaten und dessen tragische Folgen vorhersehen können. Er war also ein Prophet gewesen.“

Allerdings hätte er — und das setzen wir hinzu — bei einer länger ihm gewährten Betrachtung der Dinge — er starb schon 1916 — die von ihm geprüfte Voraussage über Serbien auch auf andere ausdehnen können.

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