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Ein Buch und sein Schicksal

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Richard Coudenhove-Kalergi, dessen Persönlichkeit und Wirken für eine ganze Generation mit der Idee eines vereinigten und befriedeten Europa verbunden ist, wurde am 17. November 1894 in Tokio als zweiter Sohn eines „westöstlichen“ Paares geboren. Thomas Mann schrieb über ihn: „Graf Coudenhove-Kalergi ist einer der merkwürdigsten und schönsten Menschen, die mir vorgekommen. Zur Hälfte Japaner, zur anderen Hälfte gemischt aus dem internationalen Adelsgeblüt Europas, wie man weiß, stellt er wirklich einen eurasischen Typ vornehmer Welt dar, der außerordentlich fesselt. Seine Haltung und sein Wort geben Kunde vom unerschütterlichen Glauben an eine politische Idee, die er mit der klarsten Energie literarisch und persönlich in die Welt zu tragen und zu propagieren weiß... Schließlich, was sollte einem imponieren, wenn nicht dieser vorwegnehmende und nobel demokratische Spitzentyp einer neuen Gesellschaft, der, von Natur gewohnt, in Erdteilen zu denken, es auf eigene Faust unternimmt, die Welt nach den Einsichten seiner Vernunft zu formen.“

Eines seiner wichtigsten, wenn auch dem Umfang nach bescheidenen Bücher mit dem Titel: „Totaler Mensch — totaler Staat“ ist vor kurzem im Herold-Verlag, Wien-München, erschienen. Im Vorwort zu diesem Buch schildert der Autor dessen abenteuerliche Geschichte:

„Dieses Buch erschien kurz vor der Besetzung Österreichs durch die Armeen Hitlers — dem Auftakt zum zweiten Weltkrieg. In Deutschland verboten, verfiel der Hauptteil jener Auflage der Beschlagnahme, als die Gestapo das Hauptquartier der Paneuropa-Bewegung in Wien besetzte und plünderte. Das Dritte Reich konnte aber nicht verhindern, daß bald darauf in London und in Paris Übersetzungen dieses Buches erschienen, die an der Schwelle des zweiten Weltkrieges von führenden Männern des Westens gelesen wurden. So half dieses Buch zur Klärung und Scheidung der Geister vor dem großen Zusammenstoß zwischen Totalitarismus und Freiheit...

Heute ist die Welt von neuem gespalten in eine freie und eine totalitäre Menschheit. Neue Kriegsgefahren sind an die Stelle der alten getreten, verstärkt durch die Drohung des Atomkrieges. Die freie Welt fühlt sich heute ebenso bedroht wie vor einem Vierteljahrhundert. Der Gegensatz zwischen dem totalen Staat und dem freien Menschen entscheidet von neuem die Weltpolitik. Dies hat mich veranlaßt, dieses in Deutschland unbekannte Buch neu herauszugeben. Die grundsätzlichen Kapitel blieben unverändert.

Auch Bücher haben ihre Schicksale. Eine englische Übersetzung fiel kurz vor Kriegsausbruch in die Hände eines mir unbekannten Japaners von weitem Horizont und fortschrittlicher Gesinnung. Er übersetzte dieses Buch in seine Muttersprache, konnte es aber nicht veröffentlichen, solange sein Vaterland der totalitären Ideologie verfallen war. Erst nach Kriegsende bat mich Ischiro Hatoyama — so hieß der Übersetzer — um meine Zustimmung zur Veröffentlichung. Inzwischen war Hatoyama zum Führer der liberalen Partei geworden. Bald nachher war er Ministerpräsident. Als Mann der Tat gab Hatoyama sich nicht mit der Herausgabe des Buches zufrieden, sondern schuf eine Jugendbewegung auf Grund der ddrin entwickelten Ideen. Diese Bewegung ,Junge Männer für Brüderlichkeit' umfaßt heute bereits mehr als 100.000 Mitglieder. Seit Hatoyamas Tod ist seine Witwe, Madame Kaoru Hatoyama, Präsidentin der Bewegung, während ich ihr Ehrenpräsident bin.

Möge diese Neuauflage dazu führen, diese in Japan entstandene Bewegung für Brüderlichkeit jenseits von Rasse, Nation, Wirtschaftssystem und Weltanschauung auch im Westen zu verankern. — Denn nur wenn die jungen Generationen Europas, Asiens, Amerikas, Afrikas und Australiens den Weg einer neuen, weltumspannenden Brüderlichkeit beschreiten, könnte vielleicht der drohende Ausbruch des Atomkrieges nicht nur vertagt, sondern verhindert werden.“

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