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Ende des Ständestaates
GRAF LEO THUN IM VORMÄRZ. Grundlagen des böhmischen Konservativismus im Kaisertum Österreich. Von Christoph T h 1 e- nen-Adlerflycht. Veröffentlichungen des österreichischen Ost- und Südosteuropa- Institutes, Band VI. Verlag Böhlau, 1967. 228 Seiten, 4 Tafeln, S 248.—.
GRAF LEO THUN IM VORMÄRZ. Grundlagen des böhmischen Konservativismus im Kaisertum Österreich. Von Christoph T h 1 e- nen-Adlerflycht. Veröffentlichungen des österreichischen Ost- und Südosteuropa- Institutes, Band VI. Verlag Böhlau, 1967. 228 Seiten, 4 Tafeln, S 248.—.
Gewiß darf sich der Geschichtsfreund freuen, wenn eine wenig bekannte Materie von einem Forscher beleuchtet wird, der besonders gute Vorausssetzungen dafür mdtbringt. Was ist die Materie dieses Buchs? Es ist die Tätigkeit des böhmischen Großgrundbesitzes im letzten Abschnitt der feudalen Epoche. Die Bedeutung Leo Thuns nach 1848, im Ministerrat des absoluten Monarchen, ist wohlbekannt; ihm hat Österreich die freiheitlichen Einrichtungen seiner Hochschulen zu verdanken. Ebenso bekannt ist die Stellung, welche das von Thun geleitete „Vaterland“ im nächsten Zeitabschnitt, während der Verfassungskämpfe, innehatte. Diese Zeitschrift kämpfte im Auftrag des „historischen Adels“ gegen Liberalismus und Kapitalismus, gegen Zentralismus und Chauvinismus. Gewiß — dies war „Reaktion“: Widerstand, Gegenangriff gegen Geist und Macht der Bourgeoisie und Bürokratie. Doch wofür kämpfte dieser „historische Adel“? Wofür hatte im Vormärz die ständische Opposition gekämpft?
Die Stärke des Autors beruht zum Teil in seiner Beherrschung der einschlägigen tschechischen Literatur. Er ist daher imstande, aus gründlicher Kenntnis die Denkungsart, die Umwelt, die ganze Existenz des böhmischen Adels und seiner aktiven Partei zu schildern. Mit reichlichem Zif- femmaterial wird da erst einmal gezeigt, was eine Herrschaftsverwaltung im Vormärz zu tun hatte; und dabei wird klar unterschieden, welche Sozialleistung der Gesinnung eines gewissenhaften Herrn, welche der staatlichen Vorschrift entsprach.
Die Sachlage wird durch eine wohl recht wenig bekannte Einzelheit beleuchtet. Auf verschiedenen böhmischen Herrschaften wurde den Bauern freigestellt, sich von den Feudallasten freizukaufen — und sie wollten es nicht. Die Gründe sind bekannt. Erstens war die — von der Regierung genau geregelte — Robot in der damaligen Praxis viel weniger drückend, als in freisinnigen Romanen; zweitens wollten sich die Bauern nicht loskaufen, weil sie damit rechneten, von der Regierung entlastet zu werden. Das jose- phinische Regime hatte also den Bauern die Vorstellung beigebracht, der Kaiser wäre bereit, den Adel zu ihren Gunsten zu enteignen
Also war die Monarchie, die Bürokratie doch das volksfreundlich® Element im Kampf gegen eigensüchtige Opposition? Gewiß — so stellte
es die offizielle Auffassung dar; so wollte nach 1848 ein Bach gesehen werden. Gegen die altkonservative Fronde der bessere Konterrevolutionär — der unbedingte Diener seines absoluten Monarchen; und eben dadurch, durch die Herstellung bürgerlicher Gleichheit, der Mann des Fortschritts! Aber diese Medaille kann man auch wenden, auch die Kehrseite betrachten. Gewiß, heute wird manchmal fast ein patriotischer Kult mit Metternich, mit der k. k. Bürokratie getrieben. Die Zeitgenossen, von Grillparzer bis Bahr, sahen's etwas anders; und auch Thun — in einem Brief an seinen Freund, den großen Tocqueville — beschreibt die Wiener Zentralverwaltung als „un mėcanisme extremement compliquė
d'organes essentiellement incapa- bles.“ (Ich glaube, es bedarf keiner Übersetzung.) Mit ihrem Ruf nach freier Selbstverwaltung, freier Landtagstätigkeit, freiem Geistesleben, freiem Volkstum waren die ständischen Oppositionellen der schreibseligen Bevormundungsmanie gegenüber gewiß im Recht — und nicht zufällig wurde in den Kreisen um das „Vaterland“ das christlichsoziale Programm geboren. Dabei hebt nun der Autor mit vollem Recht hervor, daß diese pflichtbewußten Grundherren selbst von bestem josephinischem Geist beseelt waren, insofern dieser Geist Verantwortlichkeit, Volksfreundlichkeit, Bildungsstreben bedeutete. Gerade dieses Buch beweist ja, daß man den Josephinismus nicht um bequemer Dichotomien, effektvoller Kontraste willen als ein chemisch reines System behandeln darf — so wenig man eine chemisch reine Reaktion findet.
Wir erwähnten eben Tocqueville; es wird hier nämlich auch Hochinteressantes über die internationalen persönlichen und Ideenverbindungen des besprochenen Milieus berichtet. Und so hat denn diese Arbeit für die Wirtschaftsgeschichte ebensoviel Wert wie für die Geschichte politischer Institutionen und Ideale.
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