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Osterreich als Beispiel

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Die Wiener sind wieder fleißige Zeitungs-leser geworden. Beinahe jeden Tag tauchen bei den Verkäufern neue Blätter auf, die den Lesehunger der Wiener stillen wollen. Seit einiger Zeit kann der eifrige Beobachter der Kioske unter den feilgebotenen Blättern auch regelmäßig eine tschechische Zeitung entdecken. Ist er des Tschechischen nicht mächtig, wird er glauben, es handelt sich um irgendeine Zeitung aus der Nachbarrepublik. Kann er aber Tschechisch, so ersieht er schon aus dem Titel, daß es sich um eine Wiener Zeitung in tschechischer Sprache handelt, die sich als offizielles Organ der österreichischen Tschechen und Slowaken ausgibt. Ist er sdion über eine solche Tatsache erstaunt, wird er über den Inhalt noch mehr staunen. Denn die Zeitung berichtet von einem reichen nationalen Leben der Tschechen in Österreich, von ihren tschechischen Schulen, Gottesdiensten, Vereinen, Faschingsunterhaltungen, Bibliotheken, Vorträgen und Hilfsorganisationen. Der Leser, wenn er ein editer Österreicher ist, wird aber über diese Mitteilungen nicht nur erstaunt sein, sondern auch im Grunde seines Herzens sich über die Haltung seiner Heimat fremdsprachigen Minderheiten gegenüber, freuen, eben weil in dieser Haltung der wahre Charakter Österreichs, seine Friedfertigkeit, seine Toleranz und sein Bekenntnis zur Menschlichkeit sich kundgibt. Während in der Welt, sei es in den vergangenen Jahren, sei es in de“r unmittelbaren Gegenwart, Menschen von ihren Wohnplätzen, die sie jahrhundertelang innegehabt hatten, vertrieben wurden und werden, oft nur weil sie einem andern Volk angehören, als dem im Staate herrschenden, und verhungert und krank, zerlumpt und arm über die Straßen wanken, auf der vergeblichen Suche nach einem Ort der Ruhe, oder wenn schon nicht vertrieben, doch keinerlei Recht auf ein nationales Eigenleben haben, jagt Österreich seine Minderheiten nicht aus seinem Land, sondern erkennt sie 'als Staatsbürger voll an und ermöglicht ihnen,- ihr eigenes nationales Dasein zu führen. Wo gibt es etwas Ähnliches in Europa, in den vom Krieg betroffenen Ländern? Wo hat eine nationale Minderheit ihre Schulen, Vereine, Zeitungen, ja sogar Wahlplakate in ihrer eigenen Sprache wie hier in Wien? Wo kann ein Angehöriger einer Minderheit eine hohe Staatsstellung erreichen, wie es in Österreich tatsädilich geschehen ist im Falle des Landeshauptmannes des Burgenlandes, der ein Kroate ist, obwohl das Burgenland mit seinen 300.000 Einwohnern kaum 30.000 Kroaten hat? Wo in der Welt erklärt eine Minderheit, sie wolle nicht zu jenem Land kommen, mit dem sie durdi eine gemeinsame Sprache verbunden ist, sondern wolle in ihrem alten Staatsverband bleiben, wie es ein guter Teil der Kärntner Slowenen wünscht? Als die österreichische Regierung in ihrer Note über Südtirol den Alliierten versicherte, daß jene Italiener, welche im Fall der Rückgliederung des Landes in Österreich verbleiben wollen, volle Autonomie besitzen werden, gebrauchte sie nicht, wie so vielmals in der Geschichte anderer Staaten, damit eine Phrase, um sich einen territorialen Vorteil zu sichern, im Innern schon bereit, die Versprechungen nicht zu halten, sondern diese Erklärung war wahr und ehrlich gemeint und zur Erhärtung der Wahrheit hätte die österreichische Regierung auf die gute Stellung der Minderheiten in österreidi hinweisen können.

Inmitten einer Welt, die noch voll von Feindschaft ist, in welcher das Gefühl der Rache noch manchen Menschen beseelt und ihn taub macht für alle Worte des Friedens, spricht Österreich nicht vom Frieden unter den Völkern, sondern verwirklicht ihn. Inmitten schwerer sozialer Not, gequält von Hunger und Armut, erklärt sich Österreich nicht nur bereit, die nationale Würde aller Menschen zu achten, sondern gibt der Welt ein Beispiel, wie das Zusammenleben der Völker möglich ist. Ob die Welt dieses Bild österreidis beachten wird und bereit ist, von ihm zu lernen?

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