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Wechsel in der roten Strategie?

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Angesichts der ungeheuren Zerstörungskraft des nuklearen Potentials der USA, hat die Führung der sowjetischen Streitkräfte aufgehört, einen als selbstmörderisch angesehenen atomaren Gegenschlag als die wichtigste sowjetische Waffe anzusehen, und sich entschlossen, zur Aufwertung aller konventionellen Waffen überzugehen. Hiedurch stieg in kurzer Zeit die strategische Bedeutung der Tschechoslowakei ins Ungemessene, denn sie wurde für den Fall einer Auseinandersetzung mit konventionellen Waffen zum wichtigsten Aufmarschgebiet des Ostblocks in Europa. Ihre Einordnung in das neue strategische Konzept wurde in diesem Rahmen ganz besonders lebenswichtig und bedeutete unter anderem den Gewinn mehrerer Tage für den Aufmarsch im Falle der Ingangsetzung eines Kampfes mit konventionellen Waffen.

Dies betrachten etwa nicht wenige fernöstliche Experten als die Hauptursache des Eindringens der Sowjetmacht in die Tschechoslowakei, die ihr immer weniger hörig wurde, obwohl sie einräumen, daß auch ideologische Fragen eine sekundäre Rolle gespielt haben.

Im gleichen Zusammenhang ist scharfen Beobachtern die Tatsache nicht entgangen, daß im Rahmen dieser geänderten Sowjetstrategie auch die Planungen zum Einsatz von Raketen mit atomaren Sprengköpfen und so weiter revidiert wurden. Dies bestätigen unter anderem auch die Berichte des meist gut informierten Londoner Instituts für Strategische Studien über eine einige Zeit vor der CSSR-Besetzung beobachtete Verlangsamung der sowjetischen Produktion atomarer Raketen und der einschlägigen Abwehreinrichtungen. Auch hier wurde das Sichverlassen auf den Einsatz als „selbstmörderisch“ angesehener Waffen abgebaut, als dessen sichtbare Erscheinung dann die CSSR-Besetzung in Erscheinung trat.

Nach Berichten asiatischer , Gewährsmänner beurteilt zumindest ein Teil der rotchinesischen Führungsschicht die wirklichen Hintergründe der CSSR-Besetzung in diesem Sinne. Außerdem erging in der ersten Septemberhälfte aus Peking an Hanoi die Warnung, Nordvietnam laufe Gefahr, „als Gegenleistung für eine amerikanische Anerkennung der sowjetischen Invasion der Tschechoslowakei“ vom sowjetischen Revisionismus verraten zu werden. Zur Glaubhaftmachung solcher von einer Reihe westlicher Kommentatoren als absurd bezeichneter Behauptungen tragen allerdings von der Pekinger Propaganda aufgegriffene unibedachte nordamerika nische Äußerungen bei, denen zufolge „es für die Administration Johnsons und die Demokraten in den USA nötig wäre, daß sie noch vor den Wahlen um jeden Preis eine Beendigung des Vietnamkrieges zustande bringen“ und hiefür im Notfall auch den Beistand der Sowjetunion suchen sollten. In einem ähnlichen Zusammenhang wird auch die jüngste Äußerung des amerikanischen Ostexperten Professor Kennan beachtet, daß die USA in der CSSR-Krise gelähmt sei, weil die Kräfte der Vereinigten Staaten durch Verwicklungen 'in anderen Teilen der Welt gebunden seien.

Wasser auf Pekings Mühlen

Maßgebende Rotchinesen bereiten sich offenbar vor, die Folgen der CSSR-Besetzung auch weiterhin für Pekinger Zielsetzungen auszunützen. Sie beobachten den durch dieses Vorgehen hervorgerufenen Prestigeverlust der Sowjetunion, der es nicht gelinge, „ihren Führungsanspruch in der kommunistischen Welt mit zivilisierten Mitteln zu behaupten“, und lächeln auch selbstgefällig über die durch die Vorgänge in der Tschechoslowakei im mao-feindlichen Lager angerichtete Verwirrung. Unter anderem hatte zum Beispiel die Tatsache, daß sich die indische Regierung — jedenfalls mit Rücksicht auf die Fortdauer der sowjetischen Entwicklungshilfe — zu keiner offiziellen Verurteilung der CSSR-Besetzung entschloß, in Indien beinahe zu einer Parlamentskrise geführt. Um diese Haltung zu rechtfertigen, erklärte man in indischen Regierungskreisen, man hätte einer diesbezüglichen internationalen Resolution zugestimmt, wenn sie sich damit begnügt hätte, den Einmarsch in die CSSR zu „mißbilligen“. Da man aber in die Resolution statt dieser Formulierung das Wort „verurteilen“ aufgenommen hatte, hab« sich Indien der Stimme enthalten…

Gleichzeitig paradiert Rotchina als „friedliebender Staat“, der es — irrt Gegensatz zur Sowjetunion — nicht nötig hat, „im Ausland gewaltsam aufzutreten“. Außerdem glaubt Peking als relativ unbedeutende Atommacht durch das neue Konzept der Sowjetstrategie (Aufwertung der konventionellen Waffen) im weltpolitischen Dreieck Moskau-Peking- Washington an Bedeutung gewonnen zu haben.

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