Hand - © Foto: iStock / Kikovic

Beständig geborgen: Geht das?

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Jedem Lebewesen wohnt eine Sehnsucht nach Geborgenheit inne. Kinder finden diese an der Hand der Eltern. Doch dann bleibt nur die Suche in uns selbst. Oder in der Transzendenz.

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Jedem Lebewesen wohnt eine Sehnsucht nach Geborgenheit inne. Kinder finden diese an der Hand der Eltern. Doch dann bleibt nur die Suche in uns selbst. Oder in der Transzendenz.

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Das menschliche Leben wird durch zwei fundamentale, gegensätzlich scheinende Bestrebungen geprägt. Zum einen dadurch, hinauszugehen: Als Kleinkind das Gebüsch erkunden, als Jugendlicher in ferne Länder reisen, im Erwachsenenalter viele Netzwerke knüpfen und sich in die Öffentlichkeit stellen. Zum anderen dadurch, sich zurückzuziehen: Im Kindesalter sich unter eine Decke kuscheln, in der turbulenten Jugend die Zimmertüre hinter sich abschließen, im Erwachsenenalter mit dem/der Partner/in die Vorhänge zuziehen und sich auf die Couch vor dem Kaminfeuer setzen. Diese Bestrebungen laufen sich nur scheinbar entgegen. Wer sich zumindest gelegentlich zurückzieht und dabei Geborgenheit erfährt, ist auch wahrscheinlicher in der Lage, zu neuen Ufern aufzubrechen. „Geborgenheit“ ist eines der wärmsten Wörter im Deutschen. Andere Sprachen kennen nichts Vergleichbares; das englische security, das französische securité, was nicht an kuschelige Nische denken lässt, sondern an den Sicherheitscheck auf einem Flughafen.

Geborgenheit ist mehr als Sicherheit. Sicher kann ich mich hinter den meterdicken Betonwänden eines Atombunkers fühlen, aber keineswegs zwingend auch geborgen. Wie die wenigen empirischen Studien zu dieser menschlichen Ursehnsucht zu Tage brachten, lässt Geborgenheit vor allem an Wärme denken, sei es die Haut eines lieben Menschen unter der warmen Bettdecke, der Duft, der dem Backofen entströmt, wenn das heiße Brot herausgenommen wird. Aber auch an Vertrauen, an Liebe, sowie daran, als Mensch zu sein, wie man ist, nicht gehetzt oder bedroht, sondern vielmehr tief zufrieden und erfüllt, ganz im Sinne des Osterspaziergangs im Faust I von Goethe: „Zufrieden jauchzet groß und klein: ‚Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.‘“ Geborgenheit wirkt auf unseren Organismus erwiesenermaßen segensreich. Angst schwindet, der Blutdruck sinkt, es wird weniger vom Stresshormon Cortisol ausgeschüttet, das, wenn im Übermaß vorhanden, Zivilisationskrankheiten wie Diabetus mellitus begünstigt.

Hinauswagen und zurückziehen

Es gehört zur condition humain, dass die meisten Quellen und Orte von Geborgenheit vergänglich sind. Die Arme, die einen Säugling an die Brust drücken, werden irgendwann zu klein und zu schwach. Das Jugendzimmer, in das man sich nach Stress und Streit zurückziehen konnte, muss irgendwann verlassen werden. Irgendwann geht die erste Jugendliebe, in deren Armen selige Geborgenheit zu spüren war, eigene Wege. Und irgendwann ist, im höheren Alter, die eigene Wohnung mit den vielen kuscheligen Nischen nicht mehr zu bewältigen und der Weg ins Pflegeheim unumgänglich, wo Geborgenheit freilich auch wieder verspürt werden kann. Von daher versteht sich, dass viele Menschen ein Bedürfnis nach Geborgenheit verspüren, die nicht kurzfristig ist, sondern beständig. Aber wo ist eine solche zu finden? Weniger im Außen, das sich stets wandelt und vergeht, sondern im Innen. Es ist wie beim Glück. Wenn dieses an äußerlichen Dingen festgemacht wird, an einem Cabrio, an den Lippen eines Menschen, dann ist dieses dahin, wenn das Auto demoliert ist, die geliebte Person sich verschließt. Anders hingegen jenes Glück, das sich Menschen selber erarbeiten, indem sie intrinsisch motiviert aktiv sind, geistig wie körperlich, und meditativ leben.

Ein unbestrittener Experte des Glücks ist der Dalai Lama, der jeden Tag mehrere Stunden meditiert, dessen Lächeln ungekünstelt und echt ist, mit tiefen DuchenneFalten, und der auf viele Zeitgenossen zu Recht unerschütterlich wirkt, in sich selber ruhend, nicht getrieben, Geborgenheit in sich selber, wenn auch fern von seiner Heimat Tibet, wohin er nicht zurückkehren kann. Gerade der Dalai Lama, unentwegt für den Frieden eintretend, für authentisches Glück, das sich nicht kaufen und erzwingen lässt, hat vielen Menschen geistige Geborgenheit geschenkt. Dies lässt den Schluss zu: Geborgenheit in sich selber findet wahrscheinlicher und leichter, wer anderen Menschen Geborgenheit schenkt. Beständig ist auch jene Geborgenheit, die Menschen aus ihrem Glauben beziehen können, speziell an etwas Transzendentes, das nicht den vergänglichen Zufälligkeiten des Lebens unterworfen ist. Der Kirchenlehrer Aurelius Augustinus hat Folgendes geschrieben: „Groß bist du, Herr, und über alles Lob erhaben. Und da will der Mensch dich preisen, dieser winzige Teil der Schöpfung. Du hast uns zu dir hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.“ Sätze wie diese mögen für viele Zeitgenossen antiquiert klingen, und zusehends mehr Männer und Frauen verstehen sich ohnehin eher als spirituell denn als religiös. Aber die „moderne“ Spiritualität konzeptualisiert Ähnliches, wie es auch Augustinus erfahren hat: Insbesondere Verbundenheit, zum einen mit der Natur und der sozialen Mitwelt, zum anderen mit etwas Größerem als wir selbst, zu etwas Transzendentem, Göttlichem.

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