Gäste wie alle anderen

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Asylbewerber statt Geschäftsreisender: Mit der neuen Zielgruppe ist der Betrieb in der Brüsseler Auberge Autrichienne anfangs ziemlich aus dem Takt geraten. Besuch in einem außergewöhnlichen Provisorium.

Nach der berühmten Manneken-Pis-Statue wird Madame Filipa dieser Tage von ihren Gästen kaum noch gefragt. Auch nicht nach den prunkvollen Giebeln der Grand Place, und nur noch selten erkundigt sich jemand, wie er am schnellsten mit der Metro zu seinem Tagungsort gelangt. Erst recht kein Interesse haben ihre Gäste an den Pralinenauslagen in den glitzernden Shopping Malls im Zentrum. Ihre kulinarischen Ambitionen beschränken sich auf den Mittwoch. Dann nämlich kommt ein Vertreter des Asylamts mit den Essensgutscheinen für die nächsten sieben Tage vorbei. Für alles andere muss das Frühstück genügen.

20 Jahre ist Madame Filipa in der Auberge Autrichienne angestellt, einem schlichten Zwei-Sterne-Hotel, dreihundert Meter vom Bahnhof Bruxelles Midi entfernt. Doch seit die Gäste aus Kabul, Bagdad und Grosny kommen, hat sich so einiges verändert am Arbeitsplatz der Sizilianerin. Es begann im Mai mit zwei Zimmern, die die Regierungsbehörde Fedasil für einige Flüchtlinge mietete.

Die Auffanglager waren überfüllt, so ist das schon seit einiger Zeit in Belgien. Letztes Jahr versuchte die Regierung, Asylbewerber in Obdachlosenwohnheimen unterzubringen, doch auch deren Kapazitäten waren rasch erschöpft. Also griff man auf das Hotelangebot in der Hauptstadt zurück. Mit der Zeit fragte Fedasil immer mehr Zimmer an; mittelerweile finden sich mehr als 1100 Asylbewerber in Brüssel, verteilt auf 20 Hotels. Gut 50 davon sind in der Auberge Autrichienne untergebracht – für 30 Euro pro Nacht. Das ist weniger als der reguläre Preis, doch die Überbelegung der Zimmer gleicht das wieder aus. „Hier“, sagt Madame Filipa auf die Rezeptionsliste zeigend und zählt durch, „18 Räume von 25 haben sie gemietet.“

Im Wohnzimmer der Versprengten

Ein Complet-Schild hängt an der Tür zur Straße, zeigt an, dass das Hotel belegt ist. Im Frühstücksraum befand sich früher ein österreichisches Restaurant. Doch die Köstlichkeiten der habsburgischen Cuisine hatten einen schweren Stand im maghrebinischen Mikrokosmos der Rue de Stalingrad im Brüsseler Süden, in dem bis spät in die Nacht Minztee und Tajine erhältlich sind. Daher beschlossen die Betreiber vor zwei Jahren, sich auf ihre Auberge zu konzentrieren – nur der Name „Autrichienne“ ist geblieben. Heute ist das Restaurant das Wohnzimmer der Versprengten. Hier frühstücken sie, zusammen mit den anderen Hotelgästen, unter Kronleuchtern und Stuck. Der Fernseher in der Ecke bietet Zerstreuung, eine Wärmeplatte hält Kaffee und Tee bereit, und die Küche steht den Asylbewerbern offen.

Gerade Sara weiß das zu schätzen. Die hochgewachsene Mittdreißigerin aus Gabun sitzt an einem der kleinen Tische und löffelt ihre Ramadansuppe. Erst seit vier Tagen ist sie hier. Zuvor verbrachte sie einen Monat in einem Hotel am Flughafen. Zusammen mit zweihundert anderen Flüchtlingen, zahlreichen Touristen und Rezeptionisten, die ihr vorhielten, Menschen wie sie verschwendeten das Geld Belgiens. Küchenmitbenutzung stand nicht zur Debatte, wenn es Streit gab, ließ man schon mal einen der Asylwerber mit der Polizei abholen – und überhaupt: „Dort behandelten sie uns wie Tiere!“ Sara zieht sich den braunen Schal zurecht, den sie zum Turban gebunden hat. Über die Auberge Autrichienne dagegen weiß sie nur Gutes zu berichten. „Die Leute hier sind hilfsbereit und tun für uns, was sie können. Die Atmosphäre ist freundlich.“

Warten auf das Baby

Ungeduldig spielen ihre Finger mit dem goldenen Zimmerschlüssel. Sara wartet nicht nur auf das Ergebnis ihres Asylverfahrens, sondern auch auf ihr Baby. Vor zwei Tagen hätte es geboren werden sollen. „Ich habe gerade ziemlich starke Wehen“, sagt sie. Wo sie ihr Lachen herholt, bleibt ihr Geheimnis. Ramadansuppe und Essensgutscheine machen eine schwangere Frau nicht satt, sagt Sara, und das Einzelzimmer, das sie mit ihrem Mann bewohnt, ist zwar vergleichsweise komfortabel, doch liegt die Toilette auf dem Gang und warmes Wasser hat sie auch nicht immer. Dafür ist das Krankenhaus, in dem sie ihr Kind zur Welt bringen wird, in einem Nachbarbezirk.

Ein permanentes Einrichten in den Unwägbarkeiten – das ist das Leitmotiv der Auberge Autrichienne, seit der Hotelbetrieb aus dem Takt geraten ist. Nicht, dass es keinen Rhythmus mehr gäbe. Doch die Bedürfnisse der Gäste haben sich verschoben. Beinahe rund um die Uhr herrscht Betrieb im Frühstücksraum. Während des Ramadans arrangiert Pushta, der algerische Nachtportier, schon mal eine warme Mahlzeit um vier Uhr morgens. Dringende Telefonate erledigt man an der Rezeption, die schwangere Sara ist nicht die Einzige, die ärztliche Hilfe benötigt. Und Zarina Nayani, die Auberge-Besitzerin, bringt immer wieder Medikamente von zu Hause mit.

Bückling vor dem Königsporträt

„Wir versuchen, ihnen so gut es geht zu helfen“, sagt die agile Dame, die selbst aus Pakistan stammt. Ihre Herkunft spielt eine wichtige Rolle. „Jemandem ein Glas Wasser zu verweigern, gibt es in meiner Kultur nicht“, sagt sie. Auch die Rezeptionisten der Auberge Autrichienne sind Zuwanderer. Frau Nayani ist sich sicher, dass das die Sache vereinfacht. „Wir wissen alle, wie es ist, hier fremd zu sein.“ Eine Szene an der Rezeption steht symbolisch für die Betriebsphilosophie: Die Klappe des Tresens, genau unter dem Porträt von König Albert, lässt sich nicht mehr öffnen. Also bücken sie sich Mal für Mal darunter hindurch, Zarina in ihrem türkisen Kleid, der junge Pushta und Madame Filipa im weißen Overall. Kleine Hindernisse bringen hier niemanden in Verlegenheit.

Es ist weit nach Mitternacht, als Jan Habibullah den Raum betritt. Sein akkurater Scheitel und ein gestreiftes weißes Hemd geben ihm das Äußere eines Geschäftsreisenden, das gepflegte Englisch unterstreicht diesen Eindruck. Der 32-Jährige ist Dolmetscher, in Kandahar arbeitete er für die US-Truppen, bis die Taliban sein Haus niederbrannten – als letzte Warnung. Nun ist Jan die sprachliche Schaltstelle der Auberge Autrichienne. In drei Wochen verbesserte er sein Farsi und lernte genug Arabisch, um die anderen zum Arzt oder aufs Amt zu begleiten. Etwas zu tun, findet sich immer. Anderen helfen ist sein Lebensmotto, sagt Jan. Und so lange er in Aktion bleibt, hat er Ablenkung.

Diplomatische Künste gefragt

Sein diplomatisches Geschick ist auch auf kleinem Raum gefragt. Jan teilt sich ein Doppelzimmer mit vier Männern aus dem Irak und Syrien. Allesamt konnten sie erst in letzter Minute aus dem Pulverfass entkommen, das ihr Leben bestimmte. Einer davon ist Hassan. Er wurde in Bagdad von schiitischen Milizen halb totgeschossen. Dabei verlor er nicht nur eine Niere, sondern trug ein handfestes Trauma davon. Die Ungewissheit um seine Frau und Kinder bekämpft er mit Kettenrauchen, weswegen das Fenster ständig offensteht. Allein, das Hotel liegt so dicht an den Gleisen, dass man bei der Morgentoilette die Schlagzeilen auf den Zeitungen der Pendler lesen kann. Die Zugfrequenz ist enorm. Also heißt es: Rauch oder Rattern. Es ist nicht die erste Nacht, die Jan freiwillig im Frühstücksraum verbringt.

Stille hängt über den Tischen, als hier ein paar Stunden später der neue Tag mit Croissants, Cornflakes und Orangensaft Einzug hält. Die einzigen Touristen, drei Rucksackler aus Andalusien, nehmen keine Notiz von den Asylwerbern. Wahrscheinlich wissen sie gar nicht, mit wem sie das Hotel teilen. „Wir sagen den anderen nie etwas davon, wieso auch?“, sagt Nayani, die Besitzerin. „Die Flüchtlinge sind Gäste wie alle anderen.“

Erst Madame Filipa, sichtbar ausgeschlafen, führt der Szenerie neue Energie zu. Zum Schichtwechsel küsst sie Pushta auf die Wangen. Scherzt mit Sara, wo ihr Baby bleibe. Und weist mit einem feixenden „C’est moi qui commande içi“ einem jungen Iraki seinen Platz als Befehlsempfänger zu. „Saddam Hussein“, ruft sie ihn quer durch den Raum. Er grinst. Madame Filipa darf das.

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