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Der Kinder- und Jugendpsychiater Horst Petri über das Drama der Vaterentbehrung.

Das Schlagwort "vaterlose Gesellschaft" regt Frauen wie Männer - also Mütter und Väter - auf. Aus unterschiedlichen Gründen. Horst Petri, Arzt für Neurologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychoanalytiker in Berlin, plädiert für einen besonnen Blick ohne Schuldzuweisungen und Anklagen auf das Chaos der Gefühle, das die Entbehrung des Vaters - durch Scheidung oder Tod - bei Kindern auslöst. Erst wenn Mutter und Vater das durch die Vaterentbehrung ausgelöste Trauma des Kindes wahrnehmen und nicht länger wegdiskutieren, beginnen Kräfte der Heilung zu wirken.

Tobias ist vier, als sich seine Eltern trennen. Sein Vater liest ihm, bevor er mit der letzten Bücherkiste aus der Wohnung geht, sein Lieblingsbilderbuch "Der standhafte Zinnsoldat" vor. Tobias vergräbt sich schluchzend unter der Tuchent, als der Vater aufsteht und geht. Drei Jahre lang besucht Tobias seinen Vater jeden Mittwoch und an jedem zweiten Wochenende in dessen neuer Wohnung: Spaghetti, Tiramisú gehören zum Ritual. Heute ist Tobias 17 Jahre alt, der Vater hat seit zehn Jahren eine neue Beziehung, lebt mit "neuer" Frau und "neuem Kind" zusammen. Einmal im Monat besucht Tobias den Vater: Es kocht die Lebensgefährtin, die Spaghetti-Soße schmeckt nicht mehr wie früher, an Stelle von Tiramisú gibt es Joghurt mit Früchten.

Tobias ist eine so genannte "Scheidungswaise" (will man es weniger drastisch ausdrücken, ein "Scheidungskind") und hat, so der bekannte Psychiater und Psychoanalytiker Petri, "das Drama der Vaterentbehrung" erlebt. Sowohl Vater und Mutter von Tobias haben ihr Bestes gegeben, von einem Drama im Leben ihres Sohnes wollen sie nichts wissen. "Vaterentbehrung?", könnte Tobias' Mutter stellvertretend für eine große Zahl allein erziehender Mütter schnauben. "Ich arbeite doch und ernähre uns, ich kümmere mich um mein Kind, will ihm Mutter und Vater sein, und noch immer reicht es nicht?"

Keine Verleugnungen

Horst Petri weiß um die Provokation, die der Titel seines neuen Buches darstellt, und fährt unbeirrt in seinem Plädoyer für den "neuen Blick auf die Rolle des Vaters" fort, führe dies doch zum Wohle der Kinder und zur Entlastung der mit sich und miteinander heftig ringenden Mütter und Väter. Klar beschreibt Petri die Folgen der Entbehrung des Vaters für den künftigen Lebensentwurf der Kinder: "Das Defizit, das ein verloren gegangener Vater hinterlässt, bedeutet Schmerz, Trauer und Einsamkeit. Es gilt, bestehende Verleugnungen aufzulösen, die eine angemessene Wahrnehmung des Problems blockieren."

Egal ob die Vaterentbehrung durch Vaterlosigkeit, Vaterverlust oder Vaterabwesenheit bedingt ist, die Mutter ist als primäre Umwelt des Kindes in diesen Prozess immer einbezogen. "Jedes Vater-Kind-Drama ist ein Mutter-Kind-Drama, ist ein Paardrama", erläutert Petri dieses sensible Beziehungsgefüge. Den Begriff der allein erziehenden Mutter stellt er grundsätzlich in Frage: "Er ist ein Euphemismus, denn mit der Erziehung ist es nicht getan." Entscheidend für die psychische Entwicklung des Kindes seien seine Beziehungen. Erst von ihrer Qualität hänge der Erfolg jeder Erziehungsarbeit ab. Im Sinne der ganzheitlichen Persönlichkeit benötige das Kind dazu die komplementären Bindungs- und Beziehungsgefüge zur Mutter und zum Vater. Vater und Mutter ergänzen einander in ihren Unterschieden, weiß Petri. Die Bindung der Kinder verändert sich im Zuge ihrer Entwicklung: Ein Mal brauchen sie stärker die Mutter, ein anderes Mal stärker den Vater.

Die Vaterbilder schwanken über Generationen zwischen Idealisierung und Entwertung. Väter, einerseits in Werbespots als liebenswerte Tolpatsche lächerlich gemacht, werden andererseits aufgefordert, im Erziehungsalltag und Beziehungsgefüge verfügbar zu sein. Viele Väter - selbst ohne Vater aufgewachsen - suchen nach Vorbildern, die ihnen Sicherheit bei ihrer Premiere als Vater geben. So genannte "neue Väter" erkennen ihre Bedeutung in der Dreiheit von Mutter-Vater-Kind, bauen von Anfang an eine liebevolle Beziehung zu ihren Kindern auf, wissen um ihre Verantwortung. Bis vor drei Jahrzehnten haben sich die Humanwissenschaften auf die Erforschung der Mutter-Kind-Beziehung beschränkt, der Vater war dabei eine übersehene Größe.

Getrennte Liebesobjekte

Peter ist drei Jahre alt, derzeit geht er lieber mit der Mama zur Sandkiste, die baut bessere Türme; der Papa singt schöner und hält außerdem mehr aus. Etwa wenn sich Peter vor Zorn in eine Pfütze fallen lässt oder den Müsliteller vom Tisch fegt. "Kinder in dieser Dreieckskonstellation haben zwei voneinander getrennte Liebesobjekte zur Verfügung: die Mutter und den Vater", analysiert Petri. "Sie bieten zwei verschiedene Identifizierungsmöglichkeiten an, eine weibliche und eine männliche. Wenn das Kind beide Anteile gut integrieren kann, baut es ein ganzheitliches Selbstbild auf." Kinder und Jugendliche tragen "innere Bilder von einem Vater" in sich, die sie auf ihren Lebenswegen begleiten, ihre Handlungen und Beziehungen prägen. "Voraussetzung dafür sind ausreichend gute Vateranteile, die die Kinder im Zusammenleben mit ihren Vätern verinnerlichen können." Der Psychoanalytiker unterscheidet genau zwischen "Vaterabwesenheit" und "Vaterverlust": Im Gegensatz zu Vaterverlust und Vaterlosigkeit fehlt bei der Vaterabwesenheit das Moment der Endgültigkeit: Auch bei dauernder Abwesenheit des Vaters, etwa in Folge einer Scheidung der Eltern, können regelmäßige Kontakte zwischen Vater und Kind stattfinden.

Reinhard M. lebt mit seiner Frau und deren siebenjähriger Tochter Susanne zusammen. Susanne hat eine dicke Mauer um sich gezogen, gibt ihm regelmäßig zu verstehen: "Du bist nicht mein Vater, du hast mir nichts zu sagen." Der Stiefvater ist enttäuscht, wütend und traurig. "Die Bezeichnungen Stiefmutter und -vater an sich sind abwertend. Männer und Frauen, die eine Partnerschaft eingehen, in denen sie für nicht leibliche Kinder Verantwortung übernehmen, stoßen an Grenzen: die der neuen Kinder' und die eigenen. Für Kinder, die ihren eigenen Vater verloren haben, ist ein verlässlicher Ersatzvater eine gute Chance." Dass es hier Loyalitätskonflikte zum leiblichen Vater oder Eifersucht des leiblichen Vaters auf den Ersatzvater gebe, sei verständlich, so Petri. "Der Stiefvater hat seinen Auftrag dann gelöst, wenn er im Erleben des Kindes ein wirklicher Ersatzvater geworden ist."

Das Drama der Vaterentbehrung

Chaos der Gefühle - Kräfte der Heilung.

Von Horst Petri.

Herder Verlag, Freiburg/Breisgau 2002,

223 Seiten, e 10,20

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