Kirchen in der Westwindzone

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Shoppingcenter bis Kostenoptimierung: Viele Entwicklungen in Europa haben in den USA begonnen. Das gilt auch für den religiösen Bereich. Kirchen hierzulande wären gut beraten, den Blick auch gen Westen zu richten.

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Shoppingcenter bis Kostenoptimierung: Viele Entwicklungen in Europa haben in den USA begonnen. Das gilt auch für den religiösen Bereich. Kirchen hierzulande wären gut beraten, den Blick auch gen Westen zu richten.

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Als Westwindzone bezeichnet man eine atmosphärische Luftzirkulation in den mittleren Breiten der Erde. Österreich und Deutschland werden klimatisch stark von Wetterlagen aus dem Westen beeinflusst, auch wenn es Ausnahmen gibt wie zum Beispiel bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, als nordöstliche Winde heimische Böden für Jahrzehnte verseuchten.

Metaphorisch kann man den Einfluss der Westwindzone auch gesellschaftlich festmachen. So haben viele Trends aus den USA auch bei uns Fuß gefasst. In Bereichen wie Politik, Wirtschaft, Medien und Technologie wird dies kaum jemand bestreiten. Was davon sinnvoll ist oder nicht, sei dahingestellt.

Auch im kirchlichen Bereich herrscht die Westwindzone vor. Viele Entwicklungen, die in den USA ihren Ausgangspunkt nehmen, erreichen zeitverzögert auch den deutschsprachigen Raum. Klug wäre es, diesen Trend nicht zu ignorieren, sondern wahrzunehmen, zu erforschen und kritisch zu reflektieren. So kann ein konstruktiver Mittelweg zwischen naiver Imitation und reflexhafter Abwehr gefunden werden.

Initiativen wie Kirche 2 in Hannover oder CrossingOver in Bochum spielen dabei eine Vorreiterrolle und konnten bereits viele Erfahrungen mit einer konstruktiv-kritischen Rezeption sammeln. Südlich des Weißwurstäquators herrscht die Tendenz vor, die "kirchliche Westwindzone" zu leugnen und als Quelle für Inspiration und Innovation auszuschließen.

Die USA sind schon da

So wie Shoppingcenter, 24-Stunden-Fernsehen und Kostenoptimierungen europaweit Realität sind, haben sich diverse amerikanische Trends längst auch in deutschsprachigen Kirchen etabliert. Pressestellen, Qualitätsmanagement, Strategieprozesse und Zielgruppenorientierung lassen sich ja nicht auf Einflüsse aus dem romanischen oder slawischen Raum zurückführen, sondern sind Ausdruck kirchlicher Anpassung an gesellschaftliche Veränderungen, die im Wesentlichen in den USA ihren Ursprung haben und sich unter dem Titel "Markt" subsumieren lassen. Kern dieser Entwicklung ist, dass Kirchen zwar begonnen haben, sich auf dem glitschigen Parkett des Marktes zu bewegen, ohne dieses Faktum jedoch als Ganzes zu realisieren und zu akzeptieren. Daraus resultierten seltsame Diskrepanzen zwischen professionalisierten und rückständigen kirchlichen Handlungsorten, die den einzelnen Menschen verwirren. Während etwa die Kirchenbeitragsorganisation marketing-gestylt auftritt, wird man auf Pfarrebene bei Erlebnissen zu "allen heiligen Zeiten" mit teils folkloristischen, teils langweiligen Gottesdiensten, fremder oder sogar abstoßender Ästhetik und geschlossenen Insiderkreisen konfrontiert. Während die Pfarrhomepage "alle Stückerl" spielt, wirkt der Auftritt des Bischofs im Fernsehen unverständlich und anachronistisch. Während das Ordenskrankenhaus hochattraktiv ist, wirkt der seelsorgliche Auftritt des Pfarrers pseudopsychologisch.

Die Krux halbherziger Strategien

Dass es Gemeinden aller Denominationen gibt, die gegen den Trend auch in den USA (wieder) wachsen, weil sie gerade mit solchen Widersprüchen aufgeräumt haben, wird durch die unbewusste oder unkoordinierte Vorgangsweise hierzulande übersehen. Nicht zuletzt sollte die Tatsache, dass in Deutschland mittlerweile etwa 1,3 Millionen Menschen Mitglieder von Freikirchen sind, zum Denken geben. Kirchliche Führungskräfte müssen verstehen lernen, was diese so attraktiv macht.

Noch schlimmer, weil frustrierender, ist die zweite Konsequenz dieser halbherzigen Strategie: Die wenigen, die den Markt-Trend verstanden haben und professionell darauf zu reagieren versuchen, haben zu wenig Erfolg und sind intern isoliert. Das führt zum Vorwurf, falsch zu liegen. Man hätte besser bei den Fleischtöpfen Ägyptens bleiben sollen als aufzubrechen ins Ungewisse und Neue. Damit schließt sich der Teufelskreis von Ignoranz und Misserfolg zur Innovationsresistenz. Diffuses Jammern oder moralische Appelle dominieren; konkrete, realistische und -ach du böses Wort! - erfolgreiche Veränderungsprozesse sind die Ausnahme.

Papst Franziskus spricht von der Krankheit der schlechten Koordination: "Dann wird der Leib zum Orchester, das nur Lärm hervorbringt." Egal, ob es eine Firma, eine Pfarre oder eine Familie ist: Nur wo sich die unterschiedlichen Teile als Glieder eines Leibes begreifen, sind mehr Wirkungen möglich. Es braucht sowohl Vielfalt als auch die sinnvolle Zusammensetzung und lebendige Verbundenheit der Teile. Auf dieser biblischen und organisationstheoretischen Grundlage lassen sich Hoffnungswege entwickeln, die zu mehr Wirkungen bei weniger Aufwand führen. Wie das gehen kann, erschließt der Austausch mit denen, die einen solchen Weg bereits gegangen sind. Sie stellen ihre Erfahrungen allen zur Verfügung, die nicht nur jammern, sondern konkret etwas ändern wollen. So wachsen fruchtbare Vernetzungen mit Partnern in den USA, aber auch in England und in Deutschland.

Der Autor ist Theologe und Gründer der ökumenischen Initiative Pastoralinnovation

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