"Rom hat Holland schon aufgegeben"

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Jan Kerkhofs SJ, international renommierter belgischer Religionssoziologe und Kenner der niederländischen Gesellschaft, analysiert die Situation derKatholiken in diesem Land und ihre Reaktion auf die Neuregelung der Euthanasie.

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Jan Kerkhofs SJ, international renommierter belgischer Religionssoziologe und Kenner der niederländischen Gesellschaft, analysiert die Situation derKatholiken in diesem Land und ihre Reaktion auf die Neuregelung der Euthanasie.

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die furche: Herr Professor Kerkhofs, man hat in Österreich den Eindruck, die Katholiken Hollands haben das Euthanasie-Gesetz ohne gröberen Widerstand geschluckt. Stimmt dieser Eindruck?

Jan Kerkhofs SJ: Nein. Immerhin haben Tausende, darunter viele Katholiken, vor dem Parlament in Den Haag protestiert. Zuvor gab es auch heftige Diskussion quer durch das katholische Lager. Natürlich sind sehr viele absolut dagegen, aber sehr viele bekennende Katholiken haben auch gesagt: Ja, warum eigentlich nicht Euthanasie? Wir haben hier eine Spaltung, so wie auch in der gesamten Gesellschaft des Landes. Das war übrigens bei der Zulassung der Homosexuellen-Ehe auch so. Obwohl man sagen muss, dass doch eine ganz deutliche Mehrheit meint, in bestimmten Fällen soll Euthanasie möglich sein. Bei der Zulassung der Homosexuellen-Ehe war das ein anders, da gab es mehr Opposition.

die furche: Wie hat sich die holländische Bischofskonferenz verhalten?

Kerkhofs: Die Reaktion war sehr schwach. Der Erzbischof von Utrecht, Kardinal Adriaan Simonis, ist zwar ein sehr guter Pfarrer und auch ein sehr liebenswürdiger Mensch, aber er ist kein guter Vorsitzender einer Bischofskonferenz.

die furche: Wieso nicht? Hat er nicht öffentlich und lautstark protestiert?

Kerkhofs: Doch, doch. Er war sogar im Fernsehen. Aber die anderen Bischöfe haben immer Angst, wenn er dort auftritt. Denn danach muss er immer irgendwie gerettet werden. Natürlich hat er ganz deutlich gesagt, dass er gegen die Euthanasie ist. Aber er konnte seine Haltung nicht mit Argumenten untermauern. Es wurde nur moralisierend der Zeigefinger gehoben - ganz im alten Stil. Er hat einfach kein Gefühl für Säkularisierung und für moderne ethische Auseinandersetzungen. Die Argumente müssen dann immer nachgeliefert werden. Besonders der Bischof von Rotterdam, Adriaan van Luyn, ist derjenige, der die Aussagen dann wieder zurechtrücken muss.

die furche: Und die anderen Bischöfe?

Kerkhofs: Die anderen schweigen oder sie geben dann in diversen Regionalsendern ihre eigenen Auffassungen und Stellungnahmen ab.

die furche: Wie reagiert man in Rom auf die holländischen Entwicklungen?

Kerkhofs: Man denkt wohl in Rom, dass die holländische Kirche sowieso verloren ist. Das sagt zwar niemand offiziell, aber ich glaube, dass es so ist.

die furche: Sind deshalb keine schärferen Töne zu vernehmen?

Kerkhofs: Rom reagiert natürlich auf die Vorgänge in Holland, aber eben auf die bekannte Weise. Das bedeutet zum Beispiel, dass keine progressiven Bischöfe ernannt werden, dass keine Diözesansynoden zugelassen werden und ähnliches. In Haarlem beispielsweise ist der dortige Bischof gestorben. Das ist jene Diözese, zu der auch Amsterdam gehört. Es wurde zwar ein Weihbischof ernannt, aber den haben die Priester und Pastoralarbeiter nicht angenommen. Daraufhin wurde ein zweiter ernannt. Aber auch er vermochte nicht, die Spannungen zu lösen. Also hat man immer noch keinen Ortsbischof.

die furche: Gibt es überhaupt noch Bischöfe von Bedeutung?

Kerkhofs: Holland hat seit den achtziger Jahren keine wirklich großen Bischöfe mehr gehabt. Ich kenne nur zwei, die in der Bevölkerung etwas Positives bewirken. Der eine ist der vorhin erwähnte Bischof von Rotterdam und Salesianer, Adriaan van Luyn. Der zweite ist Bischof Tiny Muskens von Breda. Der hat jetzt beispielsweise versucht, eine Diözesansynode zu organisieren. Der Nuntius war einverstanden, der Kardinal auch, aber dann hat Rom abgelehnt. Warum? Man hatte wohl Angst vor einem neuerlichen Wunsch nach mehr Demokratisierung. Angst davor, dass ethische und kirchliche Fragen nicht mehr von oben nach unten, sondern von unten nach oben entschieden werden sollen.

die furche: Nach dem Abgang von Ruud Lubbers scheint auch die christlich-demokratische Partei Hollands, die bis 1994 80 Jahre lang mitregiert hat, immer weniger Einfluss zu haben.

Kerkhhofs: Ja, aber dazu muss man sagen, dass auch die heutige linksliberale Regierung geschwächt ist. Viele sind nicht mehr zufrieden. Ministerpräsident Wim Kok ist aber ein sehr guter Politiker und könnte das auch in Zukunft sein. Er ist ein Mann, der sein Volk sehr gut kennt.

die furche: Widerspiegelt die Schwäche der christlich-demokratischen Partei nicht auch die Schwäche? der katholischen Kirche Hollands? Kerkhofs: Die Schwäche der Partei sitzt natürlich viel tiefer und hat sehr viel mit der Krise der Kirche zu tun. In den letzten 20 Jahren hat sich dramatisch viel verändert. Die kirchlichen Trauungen, die Taufen, die Sonntagsbesuche haben kontinuierlich abgenommen. Eine Studie der Regierung sagt, dass im Jahr 2020 nur mehr ein Viertel der Holländer irgendeiner Kirche angehören werden. Dazu müssen Sie sich vor Augen halten, dass 1901, also am Anfang des 20. Jahrhundert, bei der damaligen Volkszählung lediglich ein Prozent der Holländer sagten, dass sie zu keiner Kirche gehören!

die furche: Wie ist diese Entwicklung zu erklären? In keinem Land war der Einfluß der Kirchen auf das gesellschaftliche Leben so stark wie in Holland - bis in die sechziger Jahre.

Kerkhofs: Die niederländische Gesellschaft war generationenlang geprägt durch die sogenannte drei "zuilen" (Säulen, Anm. d. Red.). Die katholische, die protestantische und die allmählich wachsende humanistische Säule, die sich offiziell zu keiner kirchlichen Gruppierung bekannte. Alle drei hatten eigene Schulen, Spitäler, Fußballteams. Parteien und Medien waren ebenso in "festen" Händen. Jeder Holländer war irgendwie an eine dieser Gruppen gebunden.

die furche: Spielte dabei auch die politische Kultur ein Rolle? Das Land ist bekannt für seine "bürgergesellschaftliche" Tradition, also der starken Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen.

Kerkhofs: Fremdbestimmung und Bevormundung war den Holländern immer zuwider. Die zentrale politische Steuerung von oben nach unten ist daher traditionell schwach ausgeprägt. Auch die vorhin erwähnten Säulen agierten sehr eigenständig und unabhängig. Diese Eigenverantwortlichkeit gab es auch in der Geschlossenheit der drei Säulen. Was aber nicht heißt, dass die Holländer deshalb so frei waren, wie sie immer gerne glauben, denn die soziale Kontrolle war sehr gross. Bekannt ist ja, dass sie keine Vorhänge vor den Fenstern haben, sodass jeder sehen kann, was geschieht.

Im Zuge der allgemeinen Säkularisierung nach dem Zweiten Weltkrieg blieben diese Säulen-Strukturen und Bastionen lange Zeit aufrecht, bis eben dann alles unterspült war und zusammenbrach. Als sich die festen Bindungen auflösten, blieb dann nur mehr die große Freiheit übrig. Und die Holländer agierten auch hier wieder sehr eigenständig und sagten: Wir organisieren uns jetzt so, wie wir wollen. Sie wurden sozusagen nicht von einer aufgeklärten Politik in die neuen Zeiten hineingeführt. Heute haben wir die Situation, dass jeder über Abtreibung, Homosexualität oder Euthanasie mit seinem persönlichen Gewissen oder seiner jeweiligen Einstellung und Neigung urteilt. Es heißt ja auch: Jeder Holländer ist sein eigener Theologe.

die furche: Die Holländer sind ein gottloses Volk, hieß es kürzlich in einer Zeitung.

Kerkhofs: Natürlich gibt es auch gottlose Holländer. Aber im Großen und Ganzen beschäftigen sie sich sehr stark mit existenziellen, religiösen und weltanschaulichen Fragen. Auch die große europäische Wertestudie 2000 hat das gezeigt: 63 Prozent der Holländer sagen von sich, dass sie irgendwie "religiös" seien. Nur fünf Prozent sind überzeugte Atheisten.

die furche: Was hält die Gesellschaft eigentlich zusammen? Die Königin?

Kerkhofs: Ja, die auch. Aber die Holländer sind davon überzeugt, dass sie ein sehr gutes Land sind, und sie sind auch sehr stolz auf ihre Vorreiterrolle. Eben weil es heute kaum mehr die geschlossenen Säulen gibt, sind die Holländer in den letzten 40 Jahren gezwungen worden, in einer sehr bunten Gesellschaft zusammenzuleben. Das heißt, sie müssen angesichts vieler verschiedener Meinungen und Positionen ihre eigene Position immer sehr stark untermauern. Daher wissen die meisten Menschen im Land eigentlich doch auch, warum sie etwas tun oder nicht tun.

die furche: Wie sehen Sie die Zukunft der Kirche in Holland?

Kerkhofs: Sie ist heute viel schwächer als vor 40 Jahren. In den offiziellen Mitteilungen der Katholischen Kirche in Holland "Kerkelijke Documentatie" heißt es, dass der Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung vor 20 Jahren noch 39,5 Prozent ausmachten. 1993 waren es nur mehr 36 Prozent, und Daten über den aktuellen Stand sind nicht verfügbar. Andererseits wird die Kirche aber jetzt gezwungen, mit eigenen Kräften in eine raue See zu fahren. Auch wenige Priester können ihre Sache sehr gut machen. Man findet in Holland noch Kirchen, die ganz voll sind. Mehr auf dem Land als in den Städten, denn dort wurden die Kirchen ja verkauft und zu Diskotheken und ähnlichem umfunktioniert. Ich bin überzeugt davon, dass die Katholiken Hollands ähnlich wie in Schweden, Dänemark oder in Norddeutschland zu einer Minderheit werden, wie übrigens auch die Protestanten. Und das ist die große Herausforderung: wie können Katholiken und Protestanten als Christen zusammenarbeiten, um den Glauben und das Evangelium in die Welt zu stellen?

die furche: Das wird nicht leicht sein.

Kerkhofs: Nein, aber es ist auch eine Chance. Denn jetzt ist die Kirche nicht mehr gebremst durch Machtstreben. Es gibt nur mehr das klare Evangelium. So wie das auch am Anfang der Kirche war. Der einzige Weg in die Zukunft ist die Betonung der Qualität statt der Quantität. Die Christen müssen den Mut haben, anders zu sein.

die furche: Wer wird als nächstes Land ein Euthanasie-Gesetz wie in Holland haben?

Kerkhofs: Soziologen sind keine Propheten. Aber das Beispiel wird wohl Schule machen in Großbritannien, Skandinavien und - wahrscheinlich mit Nuancen - auch hier in Belgien.

Das Gespräch führte Elfi Thiemer.

Zur Person: Jesuit & Fernsehstar Pater Jan Kerkhofs SJ, der 30 Jahre lang Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der katholischen Universität Leuven gelehrt hat, wird am 15. Mai 77 Jahre alt. Neben zahlreichen anderen Lehrtätigkeiten an holländischen und belgischen Universitäten war er bis 1995 geistiger Berater von Uniapac, der internationalen christlichen Organisation für Unternehmer. Kerkhofs, der in Flandern durch Fernsehauftritte bekannt ist, schrieb rund 30 Bücher und hunderte Beiträge in Zeitschriften. Seit 1942 ist er Jesuit und sehr befreundet mit dem Österreichischen Provinzial P. Alois Riedelsperger.

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