"Schau Dich doch um, es geht weiter!"

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Noch vor zwei Jahren waren Großbritanniens Jugendliche führend beim Konsum von Drogen. Jetzt wurde einWandel festgestellt: Die "chemical generation" der neunziger Jahre ist out, die Geschichte wird von coolen, modernen Cyberkids geschrieben.

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Noch vor zwei Jahren waren Großbritanniens Jugendliche führend beim Konsum von Drogen. Jetzt wurde einWandel festgestellt: Die "chemical generation" der neunziger Jahre ist out, die Geschichte wird von coolen, modernen Cyberkids geschrieben.

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Was ist chicer? Ein Tschik zwischen den Fingern? Oder doch eher das Handy in der Hand? Glaubt man britischen Experten, dann tendieren die Teenager im Land mehr und mehr zum mobilen Telephon, das, wie es im "British Medical Journal" jüngst hieß, zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten für den Glimmstengel geworden ist. Während Rauchen bei den Minderjährigen im Rückgang begriffen ist, sollen bereits 70 Prozent der 15-Jährigen im Besitz eines Handy sein. Die Jungen, meint ein Experte, können sich nicht beides leisten. Viel wichtiger noch, sagt ein anderer, ist die von der Handywerbung tranportierte Botschaft, die der Zigarettenwerbung sehr ähnlich ist. Cool und modern sein ist heute alles, und das geht mit dem Handy längst so gut wie mit dem Tschik.

Cool und modern, das mag weniger Rauch bedeuten, aber heißt es wirklich auch weniger Drogen? Noch vor zwei Jahren waren Britanniens Teenager und Erwachsene in ihren 20ern europaweit führend beim Konsum von Cannabis, dem sich 36 Prozent von ihnen verschrieben hatten, von Kokain, Amphetaminen und Ecstasy. Nun aber wollen Forscher erstmals seit den sechziger Jahren einen massiven Rückgang beim Drogenkonsum festgestellt haben. Muss die "chemical generation" der neunziger Jahre endgültig den Cyberkids des dritten Jahrtausends weichen, jetzt, wo sie so gut erforscht, in Büchern und zuletzt in einem Dokumentarfilm im TV-Sender Channel 4 porträtiert ist?

Acid House und Ecstasy, die Tanz- und Drogenszene, sie verwandelten das Land ab dem Ende der achtziger Jahre in "Cool Britannia" und machten es zur Kulturikone der Welt. Die Tories zunächst noch unter Margaret Thatcher und dann unter John Major waren an der Regierung, soziale Sicherheiten schwanden, mit genug Willenskraft und der richtigen Kreditkarte würde jeder seinen Weg im freien Markt machen können, war die neue Botschaft. Die Konsumkultur blühte - und die Ravers und dann die chemical generation schufen sich ihre eigene Welt, immer am Rande der Illegalität. Denn Ecstasy war und ist illegal. "Und was für Parties wir feierten, Nächte, die uns loslösten von der Welt da draußen", schwärmt ein 25-Jähriger noch heute.

Aber ist es vorbei in Zeiten von New Labour und Tony Blair? "Come on", sagt ein Kid in einer Londoner Disco. "Schau Dich um, es geht weiter", ergänzen seine Freunde. Frag andere, und sie sehen es anders. Eingefleischte Fans von Oasis und Trainspotting klagen über das "Gewimmere" von Coldplay und den neuen Boys und Girls-Bands. "Musik für Bettnässer", tut es ein Kritiker verächtlich ab.

Ausdruck einer soften Generation, die Härte nur beim Skateboarden zeigt und sich in die Cyberwelt wegsurft. "Things can only get better", hatte Tony Blair 1997 zu seinem Wahlkampfsong gemacht - und sich zugleich ebenso dezidiert wie zuvor die Tories gegen Drogen ausgesprochen. Aber was ist besser geworden? Was wird besser? Musikalisch oder politisch, fragen manche, die ihre Zeit schwinden sehen. Anfang der neunziger Jahre gingen rund 40 Prozent der Jungwähler erst gar nicht zur Urne, nicht, dass wir uns von der Politik abkehren, die Politik bietet uns nichts, sagten sie, und setzten auf Direktaktionen wie Proteste gegen neue Straßen, Demos gegen restriktive Gesetzgebung, Hausbesetzungen oder Schaffung von alternativen Zentren. Umwelt war ein großes Thema, ist es jetzt viel weniger unter den Jugendlichen. Sagen Experten.

Ethnische Spannungen Aber ist es überhaupt sinnvoll und möglich, über "die" Jugendkultur in Großbritannien zu reden? werfen die ein, die jeder zu eindeutigen Kategorisierung mißtrauen. East London ist nicht West London ist nicht Manchester ist nicht Bradford ist nicht ... England, das war und ist das Land der Subkulturen, der weißen wie der schwarzen wie der asiatischen wie der Gay - alle jeweils im Plural zu verstehen - und vieler anderer Subkulturen, die stark auch mit ökonomischen Aspekten zu tun haben. Tony Blair mag dem Image des "Neuen Britannien" anhängen, eines jugendlichen, dynamischen, vibrierenden Landes für alle Ethnien. Aber Zahlen und Daten widerlegen ihn. "Es gibt die Oasen ohne ethnische Spannungen, die Clubs, wo Weiße, Schwarze und Asiaten an ihrer kleinen friktionsfreien Welt basteln können", sagt ein Szenekid. Aber er ist sich sicher, es sind eher wenige.

Der jüngste von einem unabhängigen Think Tank veröffentlichte Bericht über "Die Zukunft des multiethnischen Britanniens" zeichnet ein teils düsteres Bild vom Ist-Zustand. Statistiken zeigen, dass der Prozentsatz der Familien, die in Armut leben, deutlich über dem der meisten anderen europäischen Länder liegt. Dazu sind die Arbeitstage von britischen Eltern länger als die anderer Europäer. Damit auch erklären Soziologen, warum England die höchste Schwangerschaftsrate unter den 15 bis 19-Jährigen hat, die etwa sieben mal so hoch wie in den Niederlanden sein soll. Und Britannien ist noch immer eine ausgeprägte Klassengesellschaft: "Geh dich waschen!"

Wenn sich Jugendliche indischer, pakistanischer oder bangladeschischer Herkunft bei allen Beschimpfungen wie "Paki-Bastard", "Paki, dich hol ich mir noch" oder "Paki, geh dich waschen" weder von Schul- oder Universitätsbesuch noch von ausgezeichneten Leistungen abbringen lassen, so zeigen Untersuchungen, wie viele schwarze Kinder massiv in der Schule zurückfallen. "Ich fühlte mich in meiner mehrheitlich weißen Schule immer ausgeschlossen und gehaßt", erzählt einer, der in die Drogenszene abglitt und sich nun wieder erfangen hat. "Außerdem gab es nichts, aber schon gar nichts in der Schule über schwarze Kultur. Da zähle nur die Welt der Weißen."

Aber die Gründe zu diskutieren, das erfordert Fingerspitzengefühl. Erst jüngst hat ein Experte, der bei Schwarzen eine besondere Protestkultur ausgemacht haben will, die auch auf der Verweigerung gegenüber dem weißen Bildungssystem beruhe, einen Proteststurm ausgelöst. Am Anfang, hieß es sogleich, stehe allemal noch die Diskriminierung, jede Form der Protestkultur sei eine Folge davon.

Wenn also heute die Geschichte der Chemical Generation aufgearbeitet und über die noch junge Geschichte der neuen Cyberkids debattiert wird, so ist das lediglich ein Erzählungsstrang unter vielen. Aber vielleicht, meint eine Insiderin, "ist es ohnedies das Todesurteil für eine Subkultur, wenn sie einmal von den Soziologen ,verstanden' wird ..."

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