Tyrannen? Oder doch ganz normale Kinder?

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Im Buch "Die Tyrannenlüge" will Julia Dibbern ein positives Gegenbild zu den Zerrbildern der heutigen Jugend entwerfen -bleibt allerdings an der Negativfolie hängen.

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Im Buch "Die Tyrannenlüge" will Julia Dibbern ein positives Gegenbild zu den Zerrbildern der heutigen Jugend entwerfen -bleibt allerdings an der Negativfolie hängen.

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Vor uns liegt ein Kartenspiel. Es ist ein Quartett der Tyrannen. Ob Thronfolger, Faschisten, Militärs, Marionetten oder religiöse Eiferer: In jeder dieser Kategorien finden mehrere Diktatoren ihren Platz. Kim Jong-il ist dabei, Baschar al-Assad hat eine eigene Karte, ebenso Hosni Mubarak, Saddam Hussein, Mao Zedong und Adolf Hitler. Gespielt wird wie bei den allseits beliebten Kartenspielen mit Kraftfahrzeugen oder Fußballern. Statt um Hubraum oder geschossene Tore geht es hier jedoch um andere Kategorien: Wer ist der Reichste? Der am längsten Herrschende? Oder der mit den meisten Todesopfern?

Zugegeben, es braucht schon ein gewisses Level an pechschwarzem Humor, um sich dieses Spiel zuzulegen. Mit Tyrannen spielt man eben nicht. Umso überraschender, dass der Begriff in der Erziehungsliteratur oft und gern verwendet wird -und damit Analogien zu den eingangs erwähnten Herren angedeutet werden. Den Anfang machte Michael Winterhoff, der in seinem Opus "Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit"(2009) gesellschaftliche Fehlentwicklungen dafür verantwortlich machte, dass sich die Kleinen zu Quasi-Despoten entwickeln würden. Die Erziehungsberaterin Martina Leibovici-Mühlberger geht in ihrem Buch "Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden" (2016) noch weiter und gibt den betreffenden Persönlichkeiten auch in Zukunft keine Chance. "Warum wir auf die nächste Generation nicht zählen können", lautet ihr markiger Untertitel.

Starke Typen gefragt

Doch nun reiht sich ein Gegengewicht in das Sachbuchregal besorgter Eltern: "Die Tyrannenlüge". Auf mehr als 160 Seiten bemüht sich die Fachjournalistin Julia Dibbern darin, die Tyrannenvorwürfe zu widerlegen. Sie erkennt den Kindern die Anführerrolle zwar nicht ab, entschärft sie jedoch massiv und koppelt sie an andere Eigenschaften wie Kreativität und soziale Kompetenz. "Warum unsere Kinder genau das sind, was die Welt von morgen braucht", lautet Dibberns Conclusio.

Dabei räumt sie vor allem in der ersten Hälfte Allgemeinplätzen wie die "schlimme Jugend von heute","nur noch drin sitzen" und "Die googeln alles" reichlich Platz ein. Ausführlich beschreibt sie die schwierige Situation von Eltern, Pädagogen und Experten -und plädiert dafür, den Blick von extremen Einzelfällen zu lösen und Kinder und Jugendliche in ihrer Vielfalt wahrzunehmen. "Jedes Kind sollte die Chance bekommen, es selbst zu sein, um das in die Welt zu tragen, was es am besten kann", beschreibt Dibbern ihre Vision.

Entscheidend sei dabei eine passende Umgebung, welche die Kinder halte und stärke. Doch gerade hier gebe es große Herausforderungen, denen Kinder und Jugendliche aktuell gegenüberstehen würden, so Dibbern. Eine der größten sei der sich verändernde Globus. Paul Crutzen, Meteorologe und Träger des Nobelpreises für Chemie, hat im Jahr 2000 den Begriff "Anthropozän" für jenes Zeitalter geprägt, in der die durch den Menschen hervorgerufenen Veränderungen der Erde unumkehrbar geworden sind. Um hier dagegenhalten zu können, brauche es starke Menschen und dementsprechende "Bindung und Liebe zu unseren Kindern", betont Dibbern, Mitbegründerin des Webportals rabeneltern.org.

Die oft erwähnte quality time reiche dazu jedenfalls nicht aus. Dibbern verweist in diesem Zusammenhang auf eine isländische Studie aus den 1990er-Jahren, die sich mit der Prävention gegen Alkohol-und Tabakkonsum beschäftigt hat. Durch Maßnahmen wie dem Verbot von Werbung für Alkohol und Tabak und einer stärkeren Verbindung zwischen Eltern und Schule schaffte man im kleinen Inselstaat einen Wandel von anfänglich "alarmierend" hoch anfälligen Jugendlichen zu den "saubersten" Europas. Ausschlaggebend waren Vorträge darüber, wie wichtig es ist, ausreichend Zeit mit den eigenen Kindern zu verbringen, mit ihnen zu sprechen, ihre Freunde zu kennen und die Kinder abends bei sich zu Hause zu haben.

Ob den Jugendlichen heute mehr oder weniger abverlangt würde als früher, wird in Dibberns Buch lange diskutiert. Am Beispiel der Begriffe "Leistungsunwille", "Leistungsdruck" oder "Leistungsunfähigkeit" zeigt sie den enormen Interpretationsspielraum auf. Jedes Urteil sei richtig, ist die Mutter eines Teenagers überzeugt. Je nachdem, wen man zu welchem Zeitpunkt fragt, sind die Kinder heute überfordert, unterfordert, wollen nicht, wollen zu viel, können weniger oder können deutlich mehr als vorangegangene Generationen. Schwarz-Weiß-Malerei sei eben mit der Vielfalt unserer Gesellschaft nicht kompatibel, weiß Dibbern. Schnell besetzen Vorurteile das Bauchgefühl des Betrachters und bestimmen seinen Blick auf die Welt -in diesem Fall auf die Kinder. So weit, so plausibel.

"Erziehungskatastrophismus"

Obwohl die Autorin Eltern rät, sich von Skandalmeldungen und Katastrophenszenarien "nicht irre machen zu lassen" und sich vom "Erziehungskatastrophismus" fernzuhalten, widmet sie sich aber selbst ausufernd den schwierigen Situationen. Der Klappentext von "Die Tyrannenlüge" verspricht ganz praktische Ratschläge, wie Eltern eine positive Einstellung zu Kindern und dem Leben insgesamt entwickeln -eine Einstellung, die zu mehr Gelassenheit und Fröhlichkeit führen soll. Doch mit Erzählungen zu zahlreichen Problemen, die es zu bewältigen gelte, tappt sie selbst in die Falle, die Ausgangslage in der "Erziehung" als Problem darzustellen. Das ist kaum förderlich, denn wie Dibbern selber schreibt: "Negative Bilder im Kopf helfen nicht. Sie stören die Bindung, sie nehmen Kraft und Liebe weg."

Als Gegenkraft gibt die deutsche Journalistin Eltern Tipps und greift dabei besonders ausführlich auf das oft geforderte "Grenzensetzen" zurück. Für Eltern, die Erziehungsliteratur gerne als Hilfestellung heranziehen, ist das Kapitel über "Kurzfristige Herausforderung" womöglich eine gute Zusammenfassung.

Unumschränkte Einzelherrscher?

Aber auch wenn die Jugendlichen "schon stark" und "schon gut" und "genau das, was sie sein sollen" sind, werden sie die Sehnsucht spüren, sich und ihr Umfeld zu verändern, es anders und besser zu machen, meint Dibbern. Jede Generation steht unter dem Prüfungszwang, ob sie in den aktuellen Lebensumständen überlebensfähig ist. Andernfalls gäbe es nur Stillstand und keine Weiterentwicklung. Sehr oft habe die Kritik mit Vergleichen der Eltern aus dem eigenen Leben zu tun -frei nach dem Motto "Wir haben damals "

Aber "Tyrannenkinder"? Beim Wort genommen sei ein Tyrann Inhaber "einer unumschränkten Einzelherrschaft, die auf einen gewaltsamen Umsturz zurückgeht" oder "ein Machthaber, der eine Schreckensherrschaft ausübt", also ein "herrschsüchtiger, rücksichtsloser Mensch", schreibt Dibbern. Ihre Entgegnungen zu diesem Vergleich sind zwar pädagogisch wertvoll, helfen aber nicht, das gewünschte positive Bild zu entwickeln. Auch das Einbringen von Zitaten aus dem befreundeten und persönlichen Umfeld der Autorin helfen dabei nicht. Eltern kennen Schwärmereien über Nachkommen aus dem Kontakt mit Gleichgesinnten zur Genüge. Damit kommt Dibbern gegen die negativen Parolen über Jugendliche nicht an.

Spannend hingegen ist das Bild von der eigenen Hand als Hirnmodell, das der Psychologe Daniel Siegel entworfen hat. Anhand dessen beschreibt Dibbern die Lage unseres Reptiliengehirns, das grundlegende Lebensfunktionen steuert, des Säugetiergehirns, das für unsere Gefühlswelt verantwortlich ist, und des fürs Lernen verantwortlichen Hippocampus. Ihre Conclusio: Jene Angst, die als Folge eines steigenden bzw. übergroßen (Leistungs-)Drucks entstehe, würde das Verhalten der Kinder und Eltern wesentlich beeinflussen.

Dazu hätte es freilich keiner abschreckender "Tyrannen" bedurft -schon gar nicht im Buchtitel. Negative Bilder im Kopf helfen schließlich nicht. Am allerwenigsten besorgten Eltern mit einem chronisch schlechten Gewissen.

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