Ampelmännchen

Deutsche Wiedervereinigung: Eine enttäuschte Liebe

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30 Jahre deutsche Wiedervereinigung. Einheitskanzler Helmut Kohl garantierte nach der Wende „blühende Landschaften“ und meinte damit die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Gleichstellung aller Bundesbürger. Ein politisches Versprechen, das heute wie eine Utopie anmutet.

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30 Jahre deutsche Wiedervereinigung. Einheitskanzler Helmut Kohl garantierte nach der Wende „blühende Landschaften“ und meinte damit die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Gleichstellung aller Bundesbürger. Ein politisches Versprechen, das heute wie eine Utopie anmutet.

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Mit dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland endete am 3. Oktober 1990 nach vier Jahrzehnten die Teilung Deutschlands. Seitdem wird in der Präambel des Grundgesetzes festgestellt: „Die Deutschen […] haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet.“

Eine ambitionierte Formulierung aus heutiger Sicht. Auch 30 Jahre nach dem historischen Ereignis existieren eklatante Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Das beginnt schon bei den Sichtweisen auf die „Wende“. Es existieren zwei Narrative. Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmannstiftung beinhaltet die ostdeutsche Erzählung insbesondere den Aspekt, dass die Bürger der ehemaligen DDR aus eigener Kraft und mit friedlichen Mitteln die Wiedervereinigung herbeigeführt haben. Was das betrifft, fühlen sich die Protagonisten nicht sonderlich gewürdigt. Vielmehr sind die ostdeutschen Befragten der Meinung, im wiedervereinten Deutschland für ihre Leistung keine Anerkennung erhalten zu haben. Stattdessen wären Ex-DDR-Bürger in der Nachwendezeit mit Ablehnung und Missachtung konfrontiert worden. Eine These, die nur von jedem zweiten Westdeutschen bestätigt wird.

Und das ist nicht die einzige Ansicht, die diametral verschieden ist. So wird in der ostdeutschen Erzählung häufig bedauert, dass funktionierende Fragmente (stabile Mietpreise, gesicherte Arbeitsplätze, wenig Kriminalität) aus dem sozialistischen System nicht adaptiert worden sind. In Westdeutschland herrscht indes die Meinung, dass die DDR an ihren politischen und wirtschaftlichen Unzulänglichkeiten gescheitert ist. Zudem wird betont, dass die Menschen in der alten BRD die finanzielle Last der Wiedervereinigung getragen haben. Hierzu gehört auch die Vorstellung, die Westdeutschen verdienten Dankbarkeit für die Anstrengungen, die mit der Einheit verbunden waren. Eine Ansicht, die nur jeder vierte Ostdeutsche teilt.

Kollektive Unterprivilegierung

Ostdeutsche, Westdeutsche – ist diese Dualität im Jahre 2020 überhaupt noch zeitgemäß? Thomas Krüger, Präsident der deutschen „Bundeszentrale für politische Bildung“ (bpb), erklärte in der Berliner Zeitung: „Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir uns zu DDR-Zeiten als Ostdeutsche definiert haben. Im Gegenteil: Wir haben uns als Deutsche verstanden. Eine ostdeutsche Identität gab es erst nach der DDR.“ Diese speise sich, so Krüger, vor allem aus den negativen Transformationserfahrungen der 1990er Jahren. „Wenn 80 Prozent der Berufsaktiven ihren Job verlieren, wenn sie wieder auf die Schulbank müssen, weil ihre Berufe nicht mehr anerkannt werden, hat das Folgen für jede Gesellschaft.“

Dabei übersiedelten 3,3 Millionen Menschen nach der Wende mit großen Erwartungen in den Westen. Sie folgten dem politischen Versprechen, dass künftig alle Bundesbürger sozial, kulturell und wirtschaftlich gleichgestellt sind. Allerdings entpuppte sich das als bloßes Lippenbekenntnis. In Hamburg, Nürnberg oder Köln trafen die ehemaligen DDR-Bürger auf eine Realität, die ganz anders war als ihnen verheißen. Viele mussten in der westdeutschen, urbanen Marktwirtschaft der 1990er Jahre ganz unten in der Hierarchie anfangen. Forscher sprechen heute von einer „kollektiven Unterprivilegierung“, die die Konstruktion „des Ostdeutschen“ überhaupt befeuert hat.

Eine Degradierung, die Spuren hinterlassen hat. Das eigene Selbstbild geht sogar so weit, dass die meisten befragten Ostdeutschen in der oben zitierten Studie angaben, sich in erster Linie als Ostdeutsche und erst in einem zweiten Schritt als Deutsche zu fühlen. Das gilt sogar für ostdeutsche Jugendliche, die die Deutsche Demokratische Republik nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen. Politologe Alexander Clarkson, der am Kingʼs College in London „German and European Studies“ lehrt, erklärt sich das folgendermaßen: „Die ostdeutsche Identität wurde über Generationen vererbt und ist oft noch stärker geworden.“

Der Soziologe Raj Kollmorgen geht noch einen Schritt weiter. Seiner Meinung nach ist die Selbstwahrnehmung als Ostdeutsche eine Folge des Elitenaustauschs und der medialen Stigmatisierung: „Die Fremd- und die Selbstwahrnehmung als Ostdeutsche hat sich erst nach 1990 herausgebildet. Als klar wurde, dass die Wiedervereinigung schwieriger werden würde als gedacht. Als Menschen aus Ostdeutschland massenhaft ihre Arbeit verloren haben oder ihnen westdeutsche Chefs vorgesetzt wurden, als sie in Medien als faul und vormodern beschrieben wurden. Identitäten formieren sich immer dann besonders intensiv und werden wirkmächtig, wenn sie bedroht erscheinen und soziale Desintegration herrscht.“

Der Appell vieler Politiker, dass das Zusammenwachsen von Ost und West unter westdeutschen Vorzeichen stattzufinden habe, hätte dieses Gefühl befeuert. Eine Strategie, die letztlich dazu führte, so argumentiert Politologe Clarkson, dass die ursprünglich politische Abgrenzung zum Sozialismus auf die ostdeutsche Gesellschaft übertragen worden war. Das wiederum war genutzt worden, um das westdeutsche Selbstbild einer Wirtschaftswundernation zu stabilisieren.

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