
Die Taliban auf dem Vormarsch in Afghanistan: "Sie sind ohnehin schon überall"
Nach 20 Jahren verlassen die internationalen Truppen Afghanistan. Ein Abzug, der einer Kapitulation gleichkommt. Mit den Soldaten gehen auch tausende Afghanen, die für die ausländischen Militärs gearbeitet haben. Die Geschichte der Flucht eines afghanischen Übersetzers.
Nach 20 Jahren verlassen die internationalen Truppen Afghanistan. Ein Abzug, der einer Kapitulation gleichkommt. Mit den Soldaten gehen auch tausende Afghanen, die für die ausländischen Militärs gearbeitet haben. Die Geschichte der Flucht eines afghanischen Übersetzers.
Vier Koffer, zwei Rucksäcke – das war alles, was sie mitnehmen konnten. Gepäck voll mit Treibgut aus einem alten Leben, das hinübergespült werden sollte in ein neues; hastig zusammengepackt in vier Tagen. In den frühen Morgenstunden war es, als Mustafa A. (Name geändert) mit seiner Frau und den zwei Kindern zum Flugfeld am Rande Herats fuhr. Einmal noch vorbei an den vertrauten Häuserzeilen, den Straßenläden mit den heruntergelassenen Eisenrollläden, den Märkten, wo Gemüse und Bedarfsgüter ebenso gehandelt werden wie Heroin, Namen und Adressen. Hinaus aus der Stadt. Die Sonne ging auf, als sie das Gepäck verluden. Die Hitze legte sich über das Land, als sie in das Flugzeug stiegen. Ein Abschied auf unbestimmte Zeit, während der Ruf zum Morgengebet den Tagesbeginn markierte.
Mustafa A. war Übersetzter für die italienischen Truppen in Afghanistan. Erst für die NATO-Truppe ISAF, dann für die Folgemission „Resolute Support“. Ein gut bezahlter Job für einen jungen Mann mit ausgezeichneter Bildung, fließendem Englisch und großen Hoffnungen. Nur von Letzteren ist nichts geblieben.
Bis Ende Juli soll er abgeschlossen sein, der Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan. Deutschland und Italien haben ihre Soldaten samt Gerät bereits vollständig aus dem Land abgezogen – nach 20 Jahren Präsenz. Bis Ende Juli werden auch keine US-Soldaten mehr im Land sein. Es ist Afghanistans Hanoi-Moment. Ein Abzug unter dem Eindruck einer in sich zusammenfallenden Strategie. Und das trotz aller politischer Beteuerungen, dass man Afghanistan beistehen und nicht zulassen werde, dass das Land wieder in die Hände von Islamisten fällt.
Soldaten fliehen
Aber genau das passiert gerade: Im Mai haben die Taliban wie jedes Jahr ihre Frühlingsoffensive gestartet und gleich einmal 90 von 400 afghanischen Bezirken überrannt. Kämpfe gibt es in eigentlich allen Landesteilen, und auch in bisher ruhigen Gebieten, ja sogar einstigen Mudschahedin-Hochburgen. Also in Regionen, die sich zwischen 1996 und 2001 unter Kontrolle der Nordallianz vehement der Taliban-Herrschaft widersetzt hatten. Erst unlängst überrannten die Taliban etwa die Provinz Badakhshan im Nordosten Afghanistans. 1037 afghanische Soldaten flohen über die Grenze nach Tadschikistan.
Und da beißt sich die Katze in den Schwanz: Denn möglich gemacht haben die schnellen militärischen Züge der Taliban nicht zuletzt Straßen, die mit internationalen Geldern gebaut wurden. Ein Umstand, den NATO-Militärs bereits von Jahren als Eigentor bezeichnet hatten. Eines allerdings ohne Alternative. Denn wie soll man in einer Region, wo Berge auf gleich einmal 7000 Höhenmeter zugehen, ohne Verkehrswege staatliche Strukturen entwickeln – wie etwa in Badakhshan?
Mit bescheidenem Erfolg unter Kontrolle halten ließen sich die Islamisten bereits in den vergangenen Jahren nur mit der Luftwaffe, mit Aufklärungs- sowie Kampfdrohnen und punktuell auch mit Spezialeinheiten der ausländischen Truppen. Sie waren die militärische Rückversicherung der afghanischen Sicherheitskräfte. Die fällt jetzt aber weg.
Für Mustafa A. bedeutete das: jede Nacht Gewehrfeuer im Viertel. Dauernd Schießereien. Dauernd die Gerüchte unter den Nachbarn, wer jetzt bereits den Taliban angehört und wer nicht. Und dann vor allem die ständige Todesangst. Wenn Mustafa A. Bilanz zieht über sein Viertel, seine Stadt, sein Land, so sagt er: „Sie sind ohnehin schon überall.“
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