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NATO im Zwielicht

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Das neue Jahr hat für die führenden Staatsmänner der nordatlantischen Allianz mit einer schwerwiegenden Last ungelöster Probleme begonnen. Die vielfach allzu hoch gespannten Hoffnungen, daß es auf der Pariser Konferenz kurz vor Weihnachten gelingen werde, die in den letzten Monaten in den Vordergrund getretenen Differenzen zwischen den Alliierten aus der Welt zu schaffen und einen festen Plan für die beim westöstlichen Gipfeltreffen im Frühjahr einzunehmende Haltung des Westens zu vereinbaren, sind enttäuscht worden. Die Schuld daran wird fast ausschließlich dem französischen Staatspräsidenten zugeschrieben, aber nicht ganz mit Recht. Gewiß hat er mit seiner Halsstarrigkeit in Fragen der französischen Mittelmeerflotte, der Stationierung amerikanischer Atombombengeschwader in Frankreich, der Integrierung französischer Streitkräfte in die NATO-Front einen großen Teil der Verantwortung auf sich genommen, aber in dem einen oder anderen Punkt wäre er wahrscheinlich zu Nachgiebigkeit zu bewegen gewesen, hätte sein amerikanischer Gesprächspartner auf die außerordentlich hohe Empfindlichkeit de Gaulles in allen Fragen persönlichen und nationalen Prestiges — eine Empfindlichkeit, die durch die seit zwanzig Jahren fast ununterbrochene Serie von Rückschlägen und Mißerfolgen der französischen Waffen zweifellos gesteigert worden ist — ein wenig mehr Rücksicht genommen. Ein Entgegenkommen etwa hinsichtlich der von de Gaulle geforderten stärkeren Beteiligung Frankreichs an der Führung der NATO hätte jedenfalls sehr dazu beigetragen, den Unwillen des Generals über die einer vorhergehenden Zusage widersprechende Abstinenz des amerikanischen Delegierten bei der UNO-Abstimmung über die von Pakistan vorgelegte Algerien-Resolution zu besänftigen. Anderseits hat auch MacMillan nichts dazu getan, um die divergierenden Meinungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Er war in Gedanken offenbar schon weniger mit den Problemen der NATO beschäftigt als mit der kommenden West-Ost-Konferenz, die er unter allen Umständen zu einem Erfolg geführt sehen will. Der britische Premier steht auf dem Standpunkt, daß das einzige Thema, über welches bei diesem ersten Treffen — eine Reihe weiterer soll ja, seiner Idee nach, im Abstand von jeweils einigen Monaten folgen — mit guter Aussicht auf Verständigung mit Moskau verhandelt werden kann, die Berlin-Frage sei; gewisse Konzessionen in dieser Frage seien erforderlich, um im Wege eines Interimsabkommens über Berlin eine günstige Grundlage für spätere umfassende West-Ost-Gespräche zu schaffen. Der deutsche Bundeskanzler, unterstützt von General de Gaulle, lehnt diesen Gedankengang in der nicht unbegründeten Ueber-zeugung ab, daß jedes. Zurückweichen in Berlin die gesamte westliche Position empfindlich schwächen und Moskau zu immer weiterreichenden Forderungen anregen würde.

So ist das Bild, das die Organisation des Nordatlantikpaktes heute bietet, kaum geeignet, den Eindruck geschlossener Einigkeit und Stärke zu erwecken. Es hat vielmehr den Anschein, als hätte das von Moskau proklamierte Tauwetter der Tragfähigkeit dieses Paktes bereits arg zugesetzt, ehe noch die Herren des Ostens durch die Tat bewiesen haben, daß es ihnen um eine dauernde Klimaverbesserung ernstlich zu tun ist.

Auf militärischem Gebiet war der angebliche Eintritt des Tauwetters ja schon seit langem sozusagen vorweggenommen worden. Das NATO-Oberkommando, in dessen Rahmen, übrigens unter einem amerikanischen General, Briten, Franzosen, Deutsche und Vertreter der übrigen nationalen Kontingente in vorbildlicher Kameradschaftlichkeit gemeinsame Arbeit leisten, hat zu wiederholten Malen auf die dringende Notwendigkeit hingewiesen, die ihm unterstellten Streitkräfte zu verstärken. Mindestens 30 Divisionen, so erklären die Experten, seien erforderlich, um Westeuropa gegen einen Ueberraschungsangriff zu sichern; es stehen aber bloß 21 Divisionen in diesem Raum zur Verfügung des NATO-Generalstabs, und die Möglichkeit ihrer baldigen Vermehrung ist zumindest als problematisch anzusehen. Der Aufbau der deutschen Bundeswehr geht nur langsam vor sich, Frankreich denkt offenbar nicht daran, die vier vorzüglich ausgebildeten und ausgerüsteten Divisionen, die es der Befehlsgewalt der NATO entzogen und nach Algerien verlegt hat, wieder zurückzustellen, in Großbritannien mehren sich die Stimmen, die eine weitere Reduzierung der auf dem Kontinent stehenden britischen Truppen verlangen, und selbst die Amerikaner beginnen sich nachgerade zu fragen, ob es nicht an der Zeit wäre, einen Teil der von ihnen gehaltenen Stellungen an der europäischen Verteidigungsfront ihren europäischen Verbündeten zu überlassen.

Trotz alledem darf man hoffen, daß die Malaise, an dem die NATO zur Zeit leidet, behoben sein wird, bevor das für Mai anberaumte Pariser Gipfeltreffen beginnt. Denn die Erkenntnis ist den führenden Staatsmännern des Westens wohl zuzumuten, daß für die wünschenswerte Herstellung eines erträglichen Verhältnisses zum Osten nichts so notwendig ist wie die politisch und militärisch unverbrüchliche Geschlossenheit der westlichen Allianz.

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