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Viele kleine Siks

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FURCHE: Es schien, daß es nach dem Jännerplenum des Zentralkomitees nur noch Reformer in der CSSR gab. Wo waren diese Reformer aber alle in der Novotny-Zeit? Warum ist in der Tschechoslowakei nicht schon früher ein langsamer evolutionärer Prozeß der Entstalinisierung vor sich gegangen?

Dr. S.: Ich glaube, die Frage ist schon die Antwort. Schon seit Stalins Tod und hauptsächlich seit 1956 ist ein langsamer Entstalinisierungs- prozeß vor sich gegangen

FURCHE: der nicht soweit reichte wie die Reformen, die Dub- öek jetzt eingeleitet hat?

Dr. S.: Ohne diesen Prozeß, der 1954 oder 1956 begonnen hat, wäre das gar nicht möglich gewesen. Der Entstalinisierungsprozeß hat sich abgespielt in den Köpfen von verschiedenen Theoretikern, in den Köpfen der guten Funktionäre der Partei. .Sie.,mußten- erstl.umlernen:.von.den Dogmen zu einem kritischen Standpunkt BU . kommen. Besonders i wichtig war das Jahr 1963, in dem eine Wirtschaftsstagnation eingetreten ist und seit dem die Volkswirtschaftler viel kühner vorgegangen sind gegen die alten Wirtschaftstheorien, gegen die alten Methoden der Wirt- schaftsleitung. Diese Entwicklung in den Köpfen der Leute ist schon viele Jahre vor sich gegangen, nur wurde sie immer wieder gebremst.

FURCHE: Sie konnte also auch nicht in den Massenmedien zum Ausdruck kommen?

Dr. S.: Nein. In den letzten Jahren konnte man in den Fachblättern schon praktisch über alles schreiben. Man konnte es nicht in den Massenzeitungen, etwa im „Rude Pravo“. Schon das „Rude Pravo“ von 1967 war ein ganz anderes „Rude Pravo“ als das „Rude Pravo“ von 1962. Die Zeitungen sind nach und nach doch viel interessanter geworden, haben Nachrichten gebracht, haben kritische Artikel gebracht, nur an einige Probleme konnte man nicht rühren. Aber ich glaube, 1963 war ein sehr wichtiges Jahr, denn in diesem Jahr wurde viel vom Nymbus der politischen Führung zerstört, und von 1963 an konnte man viel mehr und kritischer schreiben, zum Beispiel sind nur noch sehr wenige Artikel wirklich ganz zensuriert worden.

FURCHE: Auch über wirtschaftliche Themen?

Dr. S.: Man hat schon 1958 den Vorschlag einer Wirtschaftsreform auf Grund der Kritik der Ökonomen gemacht, und zwar wurde sie zum Teil eingeführt und dann wieder auf gehoben. 1958 wurde von Novotny eine Großaktion gegen die Intelligenz gestartet. Aber eine sogenannte Säuberung ist nie möglich , gewesen. Man konnte eigentlich nie- manden finden in all diesen Jahren, i der nicht fortschrittlich gedacht i hätte. Und das war ein sehr wich- • tiges Indiz für die Entwicklung, sonst könnte man sich überhaupt ' nicht diese Evolution nach dem Jän- ! ner 1968 vorstellen.

FURCHE: Die Regierung und ' Parteiführung hat also nach den: t Jännerplenum die ganze Entwick- lung erst nachgeholt.

Dr. S.: Schon vor dem Jänner gat es öfters im Zentralkomitee große

Kritiken. Aber im Jänner oder schon im Dezember war es zu einem Demokratisierungskampf des gewählten Organs gegen den Apparat der Partei gekommen, der bis dahin stärker war. Im Jänner hat sich eigentlich das gewählte Zentralkomitee gegen Novotnys Apparat durchgesetzt. Das zweite ist, daß das Zentralkomitee jetzt stärker ist als das Parteipräsidium, was vorher umgekehrt war. und daß das Parteipräsidium jetzt stärker ist als der Erste Sekretär. Diesen Vorgang hat das Zentralkomitee als erste Maßnahme der Demokratisierung durchgesetzt, und als das durchgesetzt war, hat es sich natürlich auch bei den Kreis- und Bezirksorganisationen der Partei durchgesetzt.

FURCHE: Aber Sie glauben, daß die Opportunisten doch in der Minderheit waren.

Dr. S.: Natürlich hat es einige gegeben, denen es ganz klar war, wohin dieser weitere Kurs ziele. Und einer davon war Ota šik. Er hat ganz offen gesagt, die ökonomischen Reformen sind konsequent durchzuführen, aber ohne Änderung der politischen Struktur ist das nicht möglich.

FURCHE: Worin glauben Sie, daß der Vorwurf der Konterrevolution, den man ihm gemacht hat, basiert?

Dr. S.: Daß er versucht hat — di Planwirtschaft mit der Marktwirtschaft zu verbinden, was für verschiedene Dogmatiker immer noch ein Verbrechen ist.

FURCHE: Marktwirtschaft im Sinne der westlichen Wirtschafts, theorien?

Dr. S.: Nein, sondern den Plar mit dem Markt zu verbinden.

FURCHE: Also das Grundgeseta

von Angebot und Nachfrage auch im Sozialismus wirksam werden zu lassen?

Dr. S.: Nicht als einziges Grundgesetz, sondern daß man die Planung mit den Gesetzen des Marktes verbindet und dadurch eine effektivere Wirtschaft bekommt. Das war das eine, das zweite, was man ihm vorgeworfen hat, daß er dafür eingetreten ist, daß kleine Privatunternehmen nicht nur zugellassen, sondern unterstützt werden sollen, etwa Handwerker, die allein mit Familienmitgliedern oder mit zwei Lehrlingen produzieren. Man hat ihm vorgeworfen, daß das die Einführung des Kapitalismus ist.

FURCHE: Waren aber die Theorien, die ein Libermann in der Sowjetunion vertritt, nicht etwa auf derselben Linie wie die von Sik?

Dr. S.: Die sind nicht so weit gegangen wie die von Sik. Libermann ist als erster mit diesem Gedanken auf getreten in der Sowjetunion, aber lange nicht so weit gegangen wie in der Tschechoslowakei. Und die dritte Sache ist natüriieh die, daß Sik die ökonomische Veränderung mit politischer Veränderung verbunden hat. Ich glaube, das war sein größtes „Verbrechen“.

FURCHE: Glauben Sie, daß die Wirtschaftsreform jetzt endgültig erledigt ist?

Dr. S.: Ich glaube nicht. Ich glaube daß man sie sehr beschneiden wird, sie aber in einer beschnittenen Form weiterführen will.

FURCHE: Es wird also kleine Siks auch in Zukunft geben?

Dr. S.: Wie es jetzt ausschaut, ja. Denn was sich immerhin gezeigt hat und was auch in den Köpfen praktisch aller Tschechoslowaken verankert ist, ist die Gewißheit, daß das

Wirtschaftssystem der fünfziger und der Anfang der sechziger Jiaihre den tschechoslowakischen Verhältnissen nicht adaquat ist. Daß das ein unwirtschaftliches System ist, wie es sich Ende der fünfziger Jahre und Anfang der sechziger Jahre gezeigt hat.

FURCHE: Es hat in den letzten Monaten bereits zahlreiche Umbesetzungen in den Spitzenpositionen der Unternehmungen der Tschechoslowakei gegeben. Glauben Sie, daß diese Reformen wieder rückgängig gemacht werden?

Dr. S.: Das ist schwer zu sagen. Ich glaube nicht. Es wird sogar noch weitergehen, wenn auch langsamer.

FURCHE: Was, glauben Sie, wird Ota Sik jetzt persönlich in Zukunft unternehmen?

Dr. S: Das kann ich Ihnen nicht sagen.

FURCHE: Glauben Sie, daß es in der CSSR Kollaborateure in größerer Zahl geben wird? Wird also die Tschechoslowakei auch in der Wirtschaft wieder ein Volk von Sohwejks?

Dr. S.: Inzwischen scheint es nicht so zu sein. Schwejks sind keine Kollaborateure. Schwejks sind Leute, die äußerst geschickt passive Resistenz machen. Es wird bestimmt eine große Menge von Schwejks geben in bezug auf Zusammenarbeit mit den Besatzungstruppen, und die hat es vom ersten Moment an gegeben. Schwejks, das sind eben Leute, die tun, als ob sie alles durchführen würden, aber sie tun dabei nichts oder sie tun, was sie wollen. Die gibt es und wird es in großer Zahl weiter geben.

FURCHE: Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die der Tschechoslowakei jetzt ins Haus stehen, sind enorm. Abgesehen von den Besatzungsschäden, bedeutet doch eine Zurückführung und eindeutige Ausrichtung auf das COMECON sicherlich einen schweren wirtschaftlichen Rückschlag für die tschechoslowakische Bevölkerung. Erwarten Sie so etwas?

Dr. S.: Das ist nicht ganz der Fall. Es wurde von Anfang an gesagt, daß man nicht alles rückgängig machen würde.

FURCHE: Und Sie glauben, daß das noch im '.Schatten der Sowjets möglich ist? .. ,.lv ,

Dr. S.: Ja. Denn die Hauptkritik der Russen zielt auf politisches Gebiet, etwa auf das Verbot dieser Klubs, vielleicht auf Besetzung der Westgrenze, Nichtkritik der Sowjetunion und der Länder, die die Besetzung mitgemacht haben. Die wirtschaftlichen Maßnahmen werden nur beschnitten sein, besonders der Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Politik. Welche Chancen der größere Außenhandel mit dem Westen oder die Frage einer Anleihe haben, ist fraglich. Ich glaube aber nicht, daß man die Ausdehnung des Handels mit westlichen Ländern sehr begrenzen wird. Die Frage des Kredits von westlichen Ländern, das wird vielleicht

FURCHE: Haben die seinerzeiti-

1 gen Gerüchte über eine etwaige Ausländsanleihe der Tschechoslowakei

' im Westen nicht sehr stark die Tschechoslowakei dem Vorwurf der

1 Sowjets ausgesetzt?

Dr. S.: Es war kein Gerücht. Man hat ganz öffentlich und offen davon ' gesprochen, daß eine Anleihe not- . wendig sein wird, vielleicht aus dem ' Westen.

FURCHE: Es heißt, daß es zu Gesprächen mit westlichen Finanz-

> kreisen über die Schweiz gekommen wäre.

Dr. S.: Ungefähr zwei oder drei , Tage vor der Okkupation der Tsche- i choslowaken haben Cernik und noch . einige Wirtschaftsleute erklärt, daß ! es Verhandlungen von Firmen mit

> Firmen, also westlichen mit unseren

> Firmen gibt, aber daß es keine Ver- . handlungen von Staat zu Staat gibt

Und ich glaube, das war ungefähr ; die Basis

FURCHE: auch hinsichtlich : von Verhandlungen mit einem pri- ; vaten Bankkonsortium?

Dr. S.: Nein, sagen wir die Skoda-

- Werke mit irgendeinem Unter- , nehmen im Ausland.

i FURCHE: Nun eine letzte Frage. Glauben Sie, daß die Möglichkeit s einer kollektiven Verzweiflungstat in der Tschechoslowakei gegen das . Besatzungsregime erfolgen könnte, t also ein gewaltsamer Versuch, die

- Sowjets zu vertreiben?

Dr. S.: Ich glaube nicht. Dazu sind s die Tschechen zu gescheit

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